- 375 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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erklingt. Die Verbrüderung geht in einen Triumph über, wobei Beethoven den Chor die letzten zwei Verse der ersten Strophe wiederholen läßt. Auf den Marsch folgt ein dritter Kantatenteil (Andante maestoso, G-Dur, 3/2-Takt). Hier richtet sich der Blick von der Erde in den Kosmos, denn im »Übermaß der Freude, das dem Sieg folgt, richten die Gerechten ihren Blick nach oben:«136
136 Seidel 1994, S. 269.
»Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder! Überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen.«

Beethoven wiederholt diese Verse jeweils. Durch große Intervallsprünge werden die Wörter »Millionen« und »der ganzen Welt« hervorgehoben. Es folgen jene »feierlichen Chorstrophen, in denen Beethovens Deismus sich nicht nur mit Schiller, sondern ebenso mit Rousseau und Robespierre berührt.«137

137 Schaefer 1988, S. 86.
Dem höchsten Wesen wird so mit Erschauern geopfert. Der Gesang wendet sich damit vom Freudenhymnus ab und ähnelt mehr einem alten sakralen Gesang. Die Worte »Seid umschlungen, Millionen. Diesen Kuß der ganzen Welt« haben mehr den Charakter eines rituellen Grußes. Die Männerstimmen singen vier gewaltige Posaunensignale (Takt 2 bis 8), der jüngste Tag wird säkularisiert. Der Chor wiederholt sie in einem vierstimmigen Satz (Takt 9 bis 16), wobei das Orchester jeden Ton feierlich akzentuiert. Die responsoriale Vortragsweise zwischen Männerstimmen und Chor verstärkt den Eindruck des Sakralen. Das gleiche wiederholt sich mit den Versen »Brüder! Überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen« (Takt 17 bis 32). Die anschließenden Verse »Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?
Such ihn überm Sternenzelt! Über Sternen muß er wohnen.«

symbolisieren die Herrlichkeit allen Schöpfertums. Zu den Tremoli der Violinen werden die letzten Worte wiederholt. Beethoven gibt diesem Teil dadurch eine so immense Bedeutung, daß er den Gesang ins Entrückte, Transzendentale rückt, indem die Eingeweihten zu »Geistersehern«138

138 Seidel 1994, S. 270.
werden.

Nach einer noch gefährdeten Verbrüderungsfeier (Allegro assai vivace, Alla Marcia) und dem Andante maestoso, das die Verheißung eines transzendentalen Glücks charakterisiert, verbindet Beethoven im folgenden Kantatenabschnitt (Allegro energico, sempre ben marcato, D-Dur, 6/4-Takt) die Vorstellung der vorangegangenen beiden Teile, indem er die rhythmisch veränderte Freudenmelodie des Marsches mit der vorangegangenen transzendentalen Menschheitsverbrüderung in einer Doppelfuge zusammenführt. Die Streicher umspielen das Ganze. Die Verbindung der vorangegangenen Teile spiegeln sich auch in den Versen wider, denn der Chor besingt beide Verse. »Freude schöner Götterfunken« und »Seid umschlungen, Millionen. . . «. (Takt 1 bis 75). Im folgenden Takt stockt die Bewegung noch einmal: »Ihr stürzt nieder, Millionen?« In feierlichen Klängen wird daraufhin der »Schöpfer überm Sternenzelt« besungen bis der Chor verkündet: »Überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen.« (Takt 95 bis 108). Damit sind die vorangegangenen Zweifel behoben. So verheißt das Ende der Sinfonie nicht nur ein neues Gesellschaftsbild,


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