Neusemantisierung zu Anfang
der Sequenz verkörpert es nunmehr Alex’ dionysische Natur, mit der er sich
anarchistisch über die Banalität seiner Außenwelt absetzt. Die resignierten
Worte der Mutter »Es geht ihm mal wieder nicht gut heute morgen, Dad«
charakterisieren die Eltern als hilflose und profillose Menschen, die sich dem
Gesellschaftssystem nur unterordnen können. Es mag verwunderlich wirken, daß Kubrick
eine solch banale Frühstückssituation mit Beethovens brachialer Reprise unterlegt,
entspricht jedoch seiner Semantisierung. Es ist sowohl formal (Alltag gegen
Beethovens Crescendo) als auch funktional ein dramaturgischer Kontrapunkt (Thiel,
Kracauer und Adorno/Eisler), denn Alex’ dionysischer Freiheitsdrang, den die
Musik nunmehr charakterisiert, steht jener Welt seiner Eltern, die Stellvertreter
der bürgerlichen Gesellschaftsordnung sind, entgegen und karikiert darüber
hinaus ihre geistige »Beschränktheit«. Die Mutter sagt beispielsweise zu den
dionysischen Klängen der Überleitung (= Gewalt!): »Na ja, wie er sagt, macht er
Gelegenheitsarbeiten. Er macht halt, was er eben so bekommt.« Noch in der Überleitung
zum zweiten Thema (Reprise) erfolgt der Schnitt im Takt auf Alex’ gigantisches
Türschloß, das sich jedoch erst mit dem schnellen Zoom als solches erweist.
Die Musik wechselt wieder in eine Paraphrasierung und dient der affirmativen
Bildinterpretation, denn sie demonstriert Alex’ Prinzip, sich und seinen geliebten
Beethoven von der banalen Außenwelt abzuschotten. Mit der Unschlüssigkeit
der Schlußgruppe (Takt 380) dreht auch Alex sich langsam um und geht zum
Schlafzimmer seiner Eltern zurück. Mit der Rückung der Tonart nach A-Dur (Takt
395) bricht Kubrick die Musik ab. Durch die unaufgelöste Kadenz, die lediglich
durch das klatschende Geräusch von Alex’ Händen begleitet wird, entsteht eine
Erwartungshaltung (Schneider), denn mit der Gegenüberstellung von Alex und
seinem Bewährungshelfer treten sich zwei Welten gegenüber, die die Dialektik
Kubricks widerspiegeln. Der Konflikt, der mit der unaufgelösten Kadenz auf der
Fermate entsteht, wird jedoch nicht mehr musikalisch aufgelöst, sondern durch
den weiteren Dialog fortgesetzt. So ist das Ende des takes analog zum Anfang
ebenso auffällig und durch das Geräusch akzentuiert, das der Musik die Realität
entgegensetzt, die sich nicht zuletzt in der Person des unsympathischen Deltoid
manifestiert.
11.2.5. Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 9, IV. Satz Presto-Allegro assai
11.2.5.1 Der musikalische Kontext des Zitats
Ungewöhnlich ist der vierte Satz der neunten Sinfonie Beethovens, denn er bricht durch
sein Chorfinale mit den Gesetzen der Gattung Sinfonie. Zwar hat Beethoven zunächst
erwogen, ein rein instrumentales Finale zu komponieren, doch am Ende entwirft er einen
vierten Satz, der nicht »organisch« aus den ersten drei Sätzen hervorgeht, sondern
trotz einiger Anklänge jenseits all dessen liegt, was zuvor erklungen ist. Dies
veranlaßte Kritiker oft zu der Beurteilung, die gesamte Sinfonie sei eine Art
»Chimäre«, die aus zwei unvereinbaren Teilen besteht. Dies trifft durchaus zu, denn
der Stilbruch zwischen den ersten drei und dem vierten Satz ist das zentrale
Ereignis der Sinfonie. »Ohne ihn [den Stilbruch] hätte die Komposition ihr Ziel,
einer menschenfreundlichen Zukunft den Weg zu weisen, nicht verwirklichen
|