- 369 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Neusemantisierung zu Anfang der Sequenz verkörpert es nunmehr Alex’ dionysische Natur, mit der er sich anarchistisch über die Banalität seiner Außenwelt absetzt. Die resignierten Worte der Mutter »Es geht ihm mal wieder nicht gut heute morgen, Dad« charakterisieren die Eltern als hilflose und profillose Menschen, die sich dem Gesellschaftssystem nur unterordnen können. Es mag verwunderlich wirken, daß Kubrick eine solch banale Frühstückssituation mit Beethovens brachialer Reprise unterlegt, entspricht jedoch seiner Semantisierung. Es ist sowohl formal (Alltag gegen Beethovens Crescendo) als auch funktional ein dramaturgischer Kontrapunkt (Thiel, Kracauer und Adorno/Eisler), denn Alex’ dionysischer Freiheitsdrang, den die Musik nunmehr charakterisiert, steht jener Welt seiner Eltern, die Stellvertreter der bürgerlichen Gesellschaftsordnung sind, entgegen und karikiert darüber hinaus ihre geistige »Beschränktheit«. Die Mutter sagt beispielsweise zu den dionysischen Klängen der Überleitung (= Gewalt!): »Na ja, wie er sagt, macht er Gelegenheitsarbeiten. Er macht halt, was er eben so bekommt.« Noch in der Überleitung zum zweiten Thema (Reprise) erfolgt der Schnitt im Takt auf Alex’ gigantisches Türschloß, das sich jedoch erst mit dem schnellen Zoom als solches erweist. Die Musik wechselt wieder in eine Paraphrasierung und dient der affirmativen Bildinterpretation, denn sie demonstriert Alex’ Prinzip, sich und seinen geliebten Beethoven von der banalen Außenwelt abzuschotten. Mit der Unschlüssigkeit der Schlußgruppe (Takt 380) dreht auch Alex sich langsam um und geht zum Schlafzimmer seiner Eltern zurück. Mit der Rückung der Tonart nach A-Dur (Takt 395) bricht Kubrick die Musik ab. Durch die unaufgelöste Kadenz, die lediglich durch das klatschende Geräusch von Alex’ Händen begleitet wird, entsteht eine Erwartungshaltung (Schneider), denn mit der Gegenüberstellung von Alex und seinem Bewährungshelfer treten sich zwei Welten gegenüber, die die Dialektik Kubricks widerspiegeln. Der Konflikt, der mit der unaufgelösten Kadenz auf der Fermate entsteht, wird jedoch nicht mehr musikalisch aufgelöst, sondern durch den weiteren Dialog fortgesetzt. So ist das Ende des takes analog zum Anfang ebenso auffällig und durch das Geräusch akzentuiert, das der Musik die Realität entgegensetzt, die sich nicht zuletzt in der Person des unsympathischen Deltoid manifestiert.

11.2.5.  Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 9, IV. Satz Presto-Allegro assai

11.2.5.1 Der musikalische Kontext des Zitats

Ungewöhnlich ist der vierte Satz der neunten Sinfonie Beethovens, denn er bricht durch sein Chorfinale mit den Gesetzen der Gattung Sinfonie. Zwar hat Beethoven zunächst erwogen, ein rein instrumentales Finale zu komponieren, doch am Ende entwirft er einen vierten Satz, der nicht »organisch« aus den ersten drei Sätzen hervorgeht, sondern trotz einiger Anklänge jenseits all dessen liegt, was zuvor erklungen ist. Dies veranlaßte Kritiker oft zu der Beurteilung, die gesamte Sinfonie sei eine Art »Chimäre«, die aus zwei unvereinbaren Teilen besteht. Dies trifft durchaus zu, denn der Stilbruch zwischen den ersten drei und dem vierten Satz ist das zentrale Ereignis der Sinfonie. »Ohne ihn [den Stilbruch] hätte die Komposition ihr Ziel, einer menschenfreundlichen Zukunft den Weg zu weisen, nicht verwirklichen


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