- 367 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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und ist zugleich kommentierend. Sie schafft eine ironische Distanz zwischen ihren Klängen und dem Bild. Aus dieser Divergenz entsteht eine neue Aussage: die Musik wird semantisch neu besetzt. Kubrick entspricht hier auch dem »dramaturgischen Kontrapunkt« nach Adorno und Eisler, indem er dem bewegten Fugato den langsamen Aufzug der Kamera entgegensetzt, die den Zuschauer »zwischen den Zeilen« lesen läßt: Beethovens Vorstellung vom musikalischen Kampf gegen das Böse wird zu einer Präsentation des Bösen.

Die langsame Kamerabewegung entgegen dem Fugato ist eine Vorbereitung auf eine weitere Performance: in Takt 57 läßt das Orchester das erste Thema zum ersten Mal in vollem Fortissimo erklingen. Seidels Begriff von der »primitiven Sozialisierung« erfaßt nicht nur den Hörer, sondern nun auch die visuelle Ebene. Die Gewalt des Rhythmus erfaßt die Christusfiguren, die nun einen »abstrakten Tanz« aufführen (ab Takt 57). Kubrick schneidet nach dem Taktmetrum der Musik, denn mit den folgenden 21 Takten folgen auch 21 Einstellungen, in denen Kubrick die Figuren im 3/4-Takt »tanzen« läßt, wobei der Schnitt jedesmal exakt mit der Eins des nächsten Taktes zusammenfällt. Kubrick funktionalisiert hier zugleich das Klischee, das über die Technik des mickey-mousing verhängt wurde: das Bild wird zum willfährigen Komplizen des ersten Themas, die visuellen Synchronpunkte mit der Eins des jeweiligen Taktes schaffen den Eindruck des Künstlichen. Was Motte-Haber dieser Technik ankreidet, nutzt Kubrick bewußt aus, denn die Schnittfolge der Statuen wird zu einer künstlichen Performance, zum »Ballett der Objekte«, wie Motte-Haber es bezeichnen würde. Somit funktionalisiert Kubrick erneut vermeintliche Banalität zu einer dramaturgischen Aussage: Sexualität (die nackten Figuren) wird durch die zum Teil schrägen Detailaufnahmen von der blutigen Dornenkrone und den klaffenden Wundmerkmalen mit dem Tod verquickt, Religion wird blasphemiert. Die Schnittfolge erhebt einen Tanz, Tod und Sexualität werden wie in Alex’ Vergewaltigungsszene zu einem ästhetischen Spektakel, in der die Schnittfolge jene grazile Motorik von Alex ersetzt. Damit setzt Kubrick wieder die Ästhetik vor die Ethik. Doch mit der Funktionalisierung des mickey-mousing, das gemeinhin auch einen komödiantischen Effekt hervorruft, besinnt sich Kubrick auch auf die ursprüngliche Bedeutung des Scherzos – der musikalische Scherz, der in der visuellen Ebene damit seine volle ästhetische Entsprechung findet.

Mit der Überleitung zum zweiten Thema erfolgt der exakte Schnitt auf Alex, der Beethoven fixiert. Dieser nach oben gerichtete Blick zur Musik Beethovens ist zugleich die dionysische Verkehrung der transzendentalen Verbrüderung aller Menschen im Finale der Sinfonie. Das, was Beethoven am Ende des Werkes in den Himmel hebt – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wird hier vorausschauend zu einer bitterbösen Farce Kubricks, denn für Alex bedeutet die dionysische Hingabe an Tod und Sexualität die Erfüllung als transzendentale Vision. Alex’ Kommentar aus dem off schiebt sich als Kommentar zwischen Bild/Musik und Zuschauer: »Wie ein Vogel auf dem kostbaren Metall des Weltalls gesponnen. [. . . ] Hier wird Schwerkraft zum Unsinn.« Damit bereichert Alex’ Kommentar seine eigene Figur um eine psychologische Variante, die jene Neubesetzung Beethovens mit Tod und Eros bestätigt. Hier zeigt sich ebenso, daß es sich bei der Sinfonie nicht mehr um einen Bildton handelt, denn die zusätzliche psychologische Funktion vermag ein Fremdton in Zusammenhang mit einem Kommentar aus dem off eher zu leisten


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