- 366 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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11.2.4.2 Die dramaturgische Umsetzung

2. Sequenz: Alex in seinem Zimmer

Nachdem Alex einen »wunderbaren Abend« mit Prügeleien und Vergewaltigungen verbracht hat, läßt er ihn nun mit dem zweiten Satz aus der Neunten »vom alten Ludwig van« ausklingen. Mit Alex’ Ankündigung wird der Zuschauer auf etwas vorbereitet, was er in diesem Augenblick noch nicht deuten kann, jedenfalls muß es sich um ein für Alex wichtiges Ereignis handeln, wenn er davon spricht, den Abend »wirklich großartig« enden zu lassen. Damit ist der Einsatz sachlich motiviert (Adorno/Eisler). Mit dem brachialen Einsatz des punktierten Oktavmotivs mit der quergestellten Pauke (vgl. Sequenzprotokoll Anhang B.3.2) und dem gleichzeitigen Zoom auf Beethovens durchdringenden Blick kommentiert Kubrick seine Auffassung von Filmmusik als einer »bildintegrierten Expressionsmusik« (Schneider). Sie ist als künstliches und bewußt gesetztes dramaturgische Mittel erkennbar, was Schneider als »mitten rein in die Musik« bezeichnet. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird bewußt aufgestachelt. Damit erfüllt die Musik auch eine filmgliedernd syntaktische Funktion (Motte-Haber), denn sie setzt unmittelbar mit dem Schnitt ein.

Obwohl der Einsatz als Bildton motiviert ist – Alex legt vorher die Kassette ein – wird er mit dem Zoom auf Beethoven sogleich zum Fremdton. Die Musik wird mit dem Zoom von der Banalität ihrer Quelle entrückt, so daß sie alle folgenden Bilder ganz im Sinne Schneiders emotional einfärbt. Den Anlaß zu dieser Auslegung gibt unweigerlich Beethovens Blick. Damit entspricht Kubrick dem geschulten Muster eines Musikeinsatzes. Wie Schneider ausführt, ist eine Großaufnahme unter Einsatz der Musik als Possessivpronomen zu werten. So verhält es sich auch hier: der Blick deutet auf Kubricks Symbolik um das Auge. So wie Alex’ den Zuschauer in der ersten Sequenz anstarrt, so muß dieser sich nun auch den bösen Blick des Komponisten gefallen lassen. Die Szene ist jedoch in erster Linie als Blickkontakt zwischen Alex und seinem geliebten Komponisten zu werten. Durch die Verbindung Alex-Beethoven wird auch das Antlitz Beethovens zum »Trieborgan«, das die dunklen Seiten des Lebens präsentiert: Satanisches, Tod, Sexualität und Perversion. Die Analyse besagte bereits, daß das Kopfmotiv wie eine einpeitschende Macht wirkt: in dieser Einstellung wird Beethoven zu dieser Macht, die Alex inspiriert.

Kubrick wartet nicht lange mit dem Beweis: mit dem Einsatz des Fugato in Takt 13 erfolgt der exakte Schnitt auf das Bild der nackten Frau (Sexualität), die Kamera neigt sich weiter nach unten: Alex’ geliebte Schlange (Satanisches, Tod) züngelt sich an dem Körper der dargestellten Frau entlang bis die Kamera die vier aufgestellten Christusfiguren in Großaufnahme (Religion) erfaßt. Damit erfüllt Kubrick ausgehend von dem Blick Beethovens jene Trinität von Sexualität, Tod und Religion – eine Blasphemie des Ursprungs. Nicht zuletzt werden auch die nackten Christusfiguren mit Sexualität assoziiert, Religion wird blasphemiert. Der langsame Zug der Kamera nach unten dient damit der semantischen Neubesetzung des Komponisten. Der ursprüngliche Kontext des Satzes bezeichnet den Kampf des »Guten gegen das Böse, die Mächte der Natur«. Ausgehend davon wird der Kontext nur insofern deutlich, als daß Kubrick ihn sogleich konterkariert. Beethoven wird zum Sitz der bösartigen Inspiration, der dionysischen Macht, die Alex beherrscht. Beethovens Neunte sorgt somit im Sinne Thiels für eine kontrastierende Bildinterpretation


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