- 365 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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der unfaßbaren Natur deutlich, jedoch nicht durch übergroße Tongestalten, sondern durch eine endlose rhythmische Bewegung. Der Satz wird auch nicht beendet, sondern durch das anschließende steile Crescendo regelrecht »niedergeschlagen.« Daß Beethoven zuvor für einen Moment das vergangene pastoral getönte Trio freigibt, läßt den diktatorischen Schluß besonders abstoßend erscheinen. Der Schluß zeigt, daß der Zug ins Grenzenlose, den das Scherzo antrat, nicht unerwidert bleibt. Das Trio ermöglicht es dem Hörer, wenigstens zeitweise aus der zwingenden Rhythmik herauszukommen, in die er unfreiwillig hineingezogen wird. Damit treibt Beethoven den Gegensatz von Scherzo und Trio ins Extreme. Beide werden zu Gegenbildern menschlichen Daseins, das Scherzo zum Ort einer »zwangsweisen Vergesellschaftung« durch Rhythmik und Fugato – es zwingt den Hörer in einen satanischen Strudel einer ins Unermeßliche sich steigernden Bewegung, das Trio repräsentiert dagegen die Idee.120
120 Seidel 1994, S. 264–265.
Levy121
121 David Benjamin Levy: Beethoven: The Ninth Symphony. New York 1995, S. 69–70.
zitiert hingegen Maynard Solomon, der das Scherzo des zweiten Satzes als die Tragödie des ersten Satzes interpretiert, die nun zur Farce gemacht wird, denn das italienische Wort Scherzo bezeichnet im deutschen den Scherz. So dämonisch und grimmig der rhythmische Duktus auch scheinen mag, so sollte man sich dennoch der Bedeutung der Satzbezeichnung bewußt sein. So faßt Levy unter dem Begriff joke vor allem die Stellung des Scherzos innerhalb des gesamten Satzgefüges an zweiter statt an dritter Stelle. Aber auch seine musikalische Struktur mutet manches Mal seltsam an: so läßt Beethoven keinen Zweifel daran, daß er die Lehre der Fuge als Schüler verinnerlicht hat – wie das erste Thema beweist. Paradoxerweise wählt er für sein zweites Thema nicht die von der Sonatenhauptsatzform vorgeschriebenen Tonarten F- oder A-Dur, sondern C-Dur, das entsprechend der modulatorischen Hierarchie weit von der Tonika d-Moll entfernt liegt.

Ein äußerster Gegensatz prägt dann die Mitte der Sinfonie, denn der dritte Satz (Adagio molto e cantabile/ Andante moderato) gewährt einen »Blick in andere Welten«, Kritiker sehen in dem langsamen Satz oft ein Gebet. Seidel schreibt hierzu: »Die Mitte der Symphonie beherrscht ein humoristischer Kontrast, der den Gegensatz, der den zweiten Satz prägt, in den Schatten stellt. Die Flucht in die Orgie und der Rückzug ins Gebet haben indessen, so unvereinbar sie scheinen, eines gemeinsam: Sie sind Zeichen der Unfreiheit, sie mindern und tilgen das Selbstbewußtsein. Sie stehen für eine Gegenwart, die sich – wenn man von lichten Momenten absieht – in sich selbst erschöpft.«122

122 Seidel 1994, S. 265.

Weiterhin sieht Seidel in dem liedhaften »Gebet« den Ausdruck »namenloser Sehnsucht« nach irdischem Glück, das der Mensch im Menschen finden sollte. Schaefer bezeichnet den langsamen Satz auch als »Humanitätsgesang«.123

123 Schaefer 1988, S. 81.
Letztlich mag der Grund, warum Beethoven seinen langsamen Satz statt an zweiter Stelle nun als dritten Satz in der Sinfonie positioniert, auch in der Rechtfertigung des vierten Satzes liegen, der die »Krönung« des Werkes nach einem langsamen Satz noch deutlicher hervortreten läßt.

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