- 359 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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doch vereint Beethoven darin auch verschiedene musikalische Formen wie Sonatenform, Fuge oder Kantate – alles, was es in der klassischen Epoche überhaupt an Kompositionsformen gegeben hat. 101
101 Michael Gielen/Paul Fiebig: Beethoven im Gespräch. Die Neun Sinfonien. Stuttgart/Weimar 1995, S. 115.
In dieser Hinsicht zeigt er in dieser Schaffensperiode auch ein neu gewecktes Interesse an alten, überkonfessionellen Traditionen der Liturgie und entwickelt eine Begeisterung für den frommen Gesang. Mit seinem Rückgriff auf die griechische Mythologie werden darüber hinaus Erinnerungen an die Zeit der Eroica wach.

Wilhelm Seidel betont besonders den ideologischen Gehalt der Sinfonie: hinter dem Werk stehe die musikalische und moralische Autorität des Komponisten. In Aufzeichnungen Beethovens aus dieser Zeit finden sich Auszüge aus den beiden großen Epen Homers sowie aus Werken von Kant, Herder und Schiller. Diese Zitate lassen sich durch Eintragungen in den Konversationsheften ergänzen. Aus dem Jahr 1820 stammen die berühmten Äußerungen Beethovens über seine moralische Gesinnung: »Socrates u. Jesus waren mir Muster« sowie »das Moralische Gesez in unß, u. der gestirnte Himmel über unß’ – Kant!!!«102

102 Beethoven 1820, zit. n. Köhler/Herre 1972, S. 211/235.
Sokrates dürfte für den sittlichen Ernst der antiken Philosophie stehen, Jesus für die christliche Lehre von Liebe und Brüderlichkeit und Kant für den Vernunftglauben der Aufklärung.103
103 Geck 1997, S. 96.
Die Wahl der Verse aus Schillers Ode an die Freude für das Kantaten-Finale deutet darauf hin. Diese Idee bildet auch den Hintergrund für die neunte Sinfonie. Gerade dieses Werk, so Geck, will nicht nur gehört, sondern auch als Ideenkunstwerk verstanden werden: »Wenn Beethoven nach zehnjähriger Pause eine neue Sinfonie vorlegt, nachdem die Achte ja durchaus als Abgesang auf die Gattungstradition hatte gedeutet werden können, so muß man [...] von vornherein davon ausgehen, daß es hier nicht ›einfach‹ weitergehen soll, vielmehr Großes auf dem Spiel steht. Das Bedeutsame darf nicht nur in dem monumentalen Chorfinale gesehen werden; vielmehr ist der Zusammenhang aller Sätze zu beachten.«104
104 Geck 1997, S. 121.

Die Schillersche Ode ist für Beethoven seit seinen Bonner Jugendjahren von Bedeutung gewesen. Zu berücksichtigen ist hierbei jedoch, daß die Ode, gedacht als Konfrontation von Ideal und Wirklichkeit, von dem Republikaner Beethoven als Ode an die Freiheit verstanden wurde.105

105 Hansjürgen Schaefer: Ludwig van Beethoven. 1770–1827. Mainz 1988, S. 73.
Die Gedanken von Freiheit, Gleichheit und allgemeiner Verbrüderung, treu den Devisen der Französischen Revolution, hatte er trotz der allgemeinen Restauration auch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch nicht ausgeträumt. Daß sich die Sinfonie damit uneinholbar weit von den herrschenden politischen Zuständen der Restauration, welche lediglich das Scheitern jener bürgerlich revolutionären Ideale demonstrierte, entfernte wie auch vom musikalischen Usus der Zeit, ist vielmehr die Konsequenz und weniger die Absicht von Beethovens Konzeption. Sie ist von aktuellen Gegenbildern wie Rossini, der in dieser Zeit die Bühne beherrschte, vollkommen unabhängig. Zum einen ist sie musikalisch gesehen auf »bestürzende« Weise neu (das Chorfinale), zum anderen hält sie an den Ideen des 18. Jahrhunderts fest, an Leitbegriffen der Aufklärung wie

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