- 357 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (356)Nächste Seite (358) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

zum reinen Publikum ergab sich, daß Komponisten wie Beethoven ihre Werke nun nicht mehr der aristokratischen Schicht als ihr dienende Untergebene präsentierten, sondern vielmehr als autonome und selbstverantwortliche Gestalter menschheitsgültiger Ideen, die sie dem amorphen Publikum in ihren Kunstwerken präsentierten.92
92 Nicholas Marston: »Historischer Hintergrund. Mäzenatentum und die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft.« In: Cooper 1991b, S. 78–81.
Doch bleiben die Kunstwerke dabei stets autonom. Durch Beethoven wurde die musikalische Kunst auf eine ganz neue Stufe gehoben. Sie wird »absolut« im Sinne einer Musik, die weder als Gebrauchsmusik nur innerhalb eines genau umschriebenen gesellschaftlichen Kontextes verständlich ist, noch als dienende Kunst der Verständlichkeit eines Textes oder dramatischen Sujets unterworfen ist. Musik sagt gerade das nicht Sagbare, ist reiner Geist, wenngleich sinnlich nah wie keine andere Kunst. Sie ist nicht mehr Auftrags- und Unterhaltungskunst, sie dient nicht mehr der Darstellung von Affekten, sie ist tönende Philosophie. Sie hat Anteil an den Ideen und Strömungen ihrer Zeit und vollzieht den menschheitsverbindenden Sinn der Musik. In dieser Hinsicht spricht Bekker bei Beethovens Sinfonien auch von einer »musikalischen Volksversammlung«.93
93 Paul Bekker: Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler. Berlin 1918, S. 15.
Beethoven verwendet sie nicht als Sujet für irgendeine Art von Programmusik. Sie werden vielmehr in eine eigenständige Form gegossen.94
94 Geck 1997, S. 70–72.
So tragen besonders Beethovens Sinfonien Ideen, die durch eine tönende Darstellung deutlich gemacht werden (Beethoven »redet in Tönen«95
95 Geck 1997, S. 52.
), doch bleiben sie beim Ideenkunstwerk, das jenseits der Auslegungen einen autonomen ideellen Bestand hat. Der Idealismus kann sich nur noch im Kunstwerk manifestieren, das dadurch zu »Erhabenheit« aufsteigt. In dieser Hinsicht wird die Wiederentdeckung Bachs im 19. Jahrhundert oft unbefangen in einem Atemzug genannt mit der Durchsetzung des Ideenkunstwerks durch Beethoven. Das Verbindende zwischen beiden ist die Vorstellung einer geistigen Größe, die nationale Identität schafft und sich gegen die Oberflächlichkeit von Salonmusik und italienischer Oper wendet.

Somit war die Sichtweise seiner eigenen Kompositionen vor allem geprägt von der Kunstauffassung der Musik als einer erhebenden Kraft. Er betrachtete es als ein Aufgabe des Künstlers, die Menschheit durch seine Kunst jener ideellen Erhabenheit und göttlichen Ebene näherzubringen. Trotz aller seiner Bemühungen um ideell hohe Werte in seinen Kunstwerken konnten die Schwierigkeiten und Widrigkeiten des Lebens nicht bewältigt werden. Beethoven reagiert darauf in stoischer Akzeptanz, beispielsweise im Falle seiner Taubheit. Doch seinen Idealismus im autonomen Kunstwerk zu manifestieren, war das eigentlich Neue, das durch Beethoven dem ästhetischen Bewußtsein des Zeitalters aufgedrängt wurde.96

96 Marston 1991a, S. 77.
Aus diesem Grunde wurde er als führender Komponist der Zeit nach der Französischen Revolution häufig als Urheber einer vergleichbaren Revolution in der Musik betrachtet. Aus dieser Sicht fällt es leicht, sich vorzustellen, daß seine Sympathien mit den Idealen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im wesentlichen Einklang fanden. Dies zeigt sich besonders in einem seiner wenigen politischen Kommentare, in dem

Erste Seite (i) Vorherige Seite (356)Nächste Seite (358) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 357 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik