viele jüngere Adelige in Wien haben Beethoven keineswegs nur
in traditioneller Weise als Attraktion ihres Salons angesehen, sondern als Künstler
aufrichtig bewundert und im Geist des Napoleonischen Zeitalters als kraftvolle und
richtungsweisende Identifikationsfigur geradezu aufgebaut. Die »ganz ungebändigte
Persönlichkeit«85
85 Johann Wolfgang von Goethe 1812, zit. n. Bodo Morawe (Hrsg.): Johann Wolfgang von Goethe:
Briefe, Bd. 3. Hamburg 1965, S. 200; vgl. auch Geck 1997, S. 25.
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die Goethe im Jahr 1812 an Beethoven feststellte, scheint seine Umgebung bereits um die
Jahrhundertwende fasziniert zu haben. Seine Musik ist nicht nur im Sinne der emphatischen
Musikanschauung Arthur Schopenhauers Ausdruck des Willens schlechthin. Zugleich setzt sie sich
mit antikem, christlichem und aufklärerischen Ideengut ausführlich und konkret auseinander.
Gerade in der »reinen« Instrumentalmusik ist die Spannung zwischen selbstbezüglichen,
musikalischer Eigengesetzlichkeit verpflichteten Momenten und solchen, die nach Deutung und
weitergehendem Verstehen verlangen, zum philosophischen und ästhetischen Prinzip erhoben.
Namentlich die Sinfonien erschließen sich im wesentlichen nur, wenn sie als Dialog mit
spezifischen Traditionen, Themen und Symbolen abendländischen Denkens verstanden
werden.86
An Bedeutung nicht zu unterschätzen, ist in diesem Zusammenhang die Beethoven-Rezeption
der Romantik. E. T. A. Hoffmann betonte, daß seine Musik »das Reich des Ungeheuern, des
Unermeßlichen«87
87 E. T. A. Hoffmann 1813, zit. n. Friedrich Schnapp (Hrsg.): E. T. A. Hoffmann: Schriften zur
Musik, Nachlese. München 1963, S. 34.
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eröffnet. Insofern ist Beethoven aus heutiger Sicht im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts
besonders im Bereich der absoluten Musik hervorgetreten, namentlich innerhalb der
Gattungen des Streichquartetts und der Sinfonie. Weiterhin heißt es bei Hoffmann:
»Beethovens Musik bewegt die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens, des
Schmerzes und erweckt jene unendliche Sehnsucht, die das Wesen der Romantik
ist.«88
88 E. T. A. Hoffmann 1813, zit. n. Schnapp 1963, S. 36.
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Die
Leidenschaft, die von dem Erhabenen in der Natur verursacht werde, heißt Erschauern. Dies ist jedoch
der Zustand, in dem ein gewisser Grad von Schrecken in Beethovens Musik besteht. Wiederholt
betont Hoffmann typisch romantische Gefühle wie »unendliche Sehnsucht«. Die Musik führt den
Menschen über »selbst das im Leben Empfundene [...] hinaus aus dem Leben in das Reich des
Unendlichen.«89
89 E. T. A. Hoffmann 1813, zit. n. Schnapp 1963, S. 35.
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Damit demonstriert er nicht nur seine Begeisterung für Beethovens Musik; vielmehr
weist er auf die neuen Dimensionen hin, die speziell seine Musik erschlossen
hat: die des Phantastischen, des durch Grenzüberschreitungen und Willkür
Faszinierenden.90
Das wesentliche Vermächtnis der romantisch metaphysischen Betrachtung der Instrumentalmusik
des 19. Jahrhunderts war das Bewußtsein, daß das musikalische Werk im frühen 19.
Jahrhundert eine völlig eigenständige und in sich selbst begründete – autonome –
Daseinsberechtigung besitzt. Das heißt, daß es besonders für die Instrumentalmusik keinerlei
Veranlassung gibt, irgendwelchen Zielsetzungen, die außerhalb des rein musikalischen Bereichs
liegen, zu dienen. Diese Ablehnung einer »dienenden Musik« vollzieht sich auch in der Stellung
des Künstlers im 19. Jahrhundert.
Das Ideenkunstwerk
Kurz nach 1800 betritt Beethoven einen von ihm selbst so genannten »neuen Weg«. Nunmehr
betrachtet er jedes Opus in der Tendenz als ein nach Struktur und Gehalt charakteristisches
Einzelkunstwerk, das als Ideenkunstwerk zu seiner Philosophie in Tönen seinen Beitrag
leistet.91
Mit der Wandlung der ehemaligen Standesschicht
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