- 356 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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viele jüngere Adelige in Wien haben Beethoven keineswegs nur in traditioneller Weise als Attraktion ihres Salons angesehen, sondern als Künstler aufrichtig bewundert und im Geist des Napoleonischen Zeitalters als kraftvolle und richtungsweisende Identifikationsfigur geradezu aufgebaut. Die »ganz ungebändigte Persönlichkeit«85
85 Johann Wolfgang von Goethe 1812, zit. n. Bodo Morawe (Hrsg.): Johann Wolfgang von Goethe: Briefe, Bd. 3. Hamburg 1965, S. 200; vgl. auch Geck 1997, S. 25.
, die Goethe im Jahr 1812 an Beethoven feststellte, scheint seine Umgebung bereits um die Jahrhundertwende fasziniert zu haben. Seine Musik ist nicht nur im Sinne der emphatischen Musikanschauung Arthur Schopenhauers Ausdruck des Willens schlechthin. Zugleich setzt sie sich mit antikem, christlichem und aufklärerischen Ideengut ausführlich und konkret auseinander. Gerade in der »reinen« Instrumentalmusik ist die Spannung zwischen selbstbezüglichen, musikalischer Eigengesetzlichkeit verpflichteten Momenten und solchen, die nach Deutung und weitergehendem Verstehen verlangen, zum philosophischen und ästhetischen Prinzip erhoben. Namentlich die Sinfonien erschließen sich im wesentlichen nur, wenn sie als Dialog mit spezifischen Traditionen, Themen und Symbolen abendländischen Denkens verstanden werden.86
86 Geck 1997, S. 7.

An Bedeutung nicht zu unterschätzen, ist in diesem Zusammenhang die Beethoven-Rezeption der Romantik. E. T. A. Hoffmann betonte, daß seine Musik »das Reich des Ungeheuern, des Unermeßlichen«87

87 E. T. A. Hoffmann 1813, zit. n. Friedrich Schnapp (Hrsg.): E. T. A. Hoffmann: Schriften zur Musik, Nachlese. München 1963, S. 34.
eröffnet. Insofern ist Beethoven aus heutiger Sicht im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts besonders im Bereich der absoluten Musik hervorgetreten, namentlich innerhalb der Gattungen des Streichquartetts und der Sinfonie. Weiterhin heißt es bei Hoffmann: »Beethovens Musik bewegt die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes und erweckt jene unendliche Sehnsucht, die das Wesen der Romantik ist.«88
88 E. T. A. Hoffmann 1813, zit. n. Schnapp 1963, S. 36.
Die Leidenschaft, die von dem Erhabenen in der Natur verursacht werde, heißt Erschauern. Dies ist jedoch der Zustand, in dem ein gewisser Grad von Schrecken in Beethovens Musik besteht. Wiederholt betont Hoffmann typisch romantische Gefühle wie »unendliche Sehnsucht«. Die Musik führt den Menschen über »selbst das im Leben Empfundene [...] hinaus aus dem Leben in das Reich des Unendlichen.«89
89 E. T. A. Hoffmann 1813, zit. n. Schnapp 1963, S. 35.
Damit demonstriert er nicht nur seine Begeisterung für Beethovens Musik; vielmehr weist er auf die neuen Dimensionen hin, die speziell seine Musik erschlossen hat: die des Phantastischen, des durch Grenzüberschreitungen und Willkür Faszinierenden.90
90 Geck 1997, S. 133.
Das wesentliche Vermächtnis der romantisch metaphysischen Betrachtung der Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts war das Bewußtsein, daß das musikalische Werk im frühen 19. Jahrhundert eine völlig eigenständige und in sich selbst begründete – autonome – Daseinsberechtigung besitzt. Das heißt, daß es besonders für die Instrumentalmusik keinerlei Veranlassung gibt, irgendwelchen Zielsetzungen, die außerhalb des rein musikalischen Bereichs liegen, zu dienen. Diese Ablehnung einer »dienenden Musik« vollzieht sich auch in der Stellung des Künstlers im 19. Jahrhundert.

Das Ideenkunstwerk

Kurz nach 1800 betritt Beethoven einen von ihm selbst so genannten »neuen Weg«. Nunmehr betrachtet er jedes Opus in der Tendenz als ein nach Struktur und Gehalt charakteristisches Einzelkunstwerk, das als Ideenkunstwerk zu seiner Philosophie in Tönen seinen Beitrag leistet.91

91 Geck 1997, S. 116.
Mit der Wandlung der ehemaligen Standesschicht

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