- 355 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (354)Nächste Seite (356) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

und widersprüchlich. Das hinderte jedoch Künstler wie Beethoven nicht daran, sich vom Genius der Zeit beflügeln zu lassen. Doch könne man, so Geck, den politischen Zeitbeobachter und Komponisten Beethoven nicht unbedingt in Einklang zwingen. Zwar hallen durch seine Sinfonien die Klänge der Französischen Revolution, doch macht ihn dies noch lange nicht zum Jakobiner. Bei allem Reichtum an Perspektiven liegt die Bedeutung der Beethovenschen Musik in ihrer zusammenfassenden und einenden Kraft. Sie bietet kein Forum für platte ideologische Vereinnahmungen, aber sie ist freilich offen für Deutungen ideologischer Intentionen.81
81 Geck 1997, S. 23.

Philosophische und ästhetische Strömungen

Ein Jahr nach Beethovens Geburt veröffentlichte Johann Georg Sulzer seine Allgemeine Theorie der schönen Künste. Goethes einflußreicher Briefroman Die Leiden des jungen Werthers erschien 1774. Kants Kritik der Urteilskraft wurde 1790 veröffentlicht. Um die Jahrhundertwende legten Autoren wie Herder, Tieck, Wackenroder, Novalis und die Brüder Schlegel Grundsteine früher romantischer Literaturkritik. Dies zeigt, wie schwierig es im Grunde ist, eindeutige Trennlinien in den geistigen Strömungen in diesem für Beethoven wichtigen Zeitraum zu ziehen.82

82 Nicholas Marston: »Historischer Hintergrund. Geistige Strömungen: Philosophie und Ästhetik.« In: Cooper 1991a, S. 74.
Dennoch gibt es im Bereich der Musikästhetik eine weitreichende und deutliche Veränderung. Um 1800 entsteht die Idee der Metaphysik der Instrumentalmusik.83
83 Vgl. auch Kap. 11.1.3.1.
Im 18. Jahrhundert orientierte sich die Kunst maßgeblich an der Lehre des Aristoteles als einer »Nachahmung der Natur«. Entsprechend der aufklärerischen Lehre dient die Musik als einflußreiches Mittel zur Hebung der Moral. Unter den Künsten hat sie Kant zufolge jedoch den untersten Platz, da sie bloß mit Empfindungen spielt. Dazu zählte vor allem die Instrumentalmusik, die nun kritisch betrachtet wurde, da sie »nur« Empfindungen weckt, etwas, was durch die Ratio nicht zu erfassen ist. Infolgedessen wurde der reinen Instrumentalmusik ein geringer Stellenwert beigemessen. Sie mußte die Verbindung mit dem Wort eingehen – etwa wie in der Oper – um einen erfaßbaren Sinn und da-mit moralischen Einfluß zu gewinnen. Diese Einstellung wandelt sich nun mit der Jahrhundertwende. Mit der provozierenden Idee, daß sich in reiner Instrumentalmusik Geist manifestiere, beginnt die Musik, sich endgültig von der Vorstellung zu emanzipieren, stets zu Diensten sein zu müssen und sich ihrer ganzen Würde bewußt wird. Die Ideale von Universalität, Rationalität und Klarheit machen nun jener Denkweise Platz, die der individuellen und irrationalen Undurchschaubarkeit den höchsten Platz einräumt. In diesem Umfeld wird die Instrumentalmusik wieder als die höchste der musikalischen Formen angesehen, da sie gerade wegen ihrer mangelnden Bezugnahme Platz für individuelle Empfindungen läßt, so daß Schopenhauer letztlich feststellte: »Weil die Musik nicht gleich allen andern Künsten die Ideen oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie auf den Willen, d.i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht oder auch umstimmt.«84
84 Schopenhauer 1818, Bd. II, 1996, S. 574.

Sie sei eine allgemeine Sprache, die jedoch deutlicher sei als die anschauliche Welt. Im Falle von Beethoven – wie überhaupt in der Musik – nun eine eindeutige Trennungslinie zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert zu ziehen, ist im Gegensatz zur Literatur schwierig, da es fraglich ist, ob der Komponist sich dieser sich verändernden Situation bewußt war. Wie auch immer der Einfluß der romantischen Ästhetik gewirkt haben mag, Beethoven wurde zweifelsohne sehr schnell zum Inbegriff des romantischen Komponisten. Auch


Erste Seite (i) Vorherige Seite (354)Nächste Seite (356) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 355 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik