zu verstehen
ist.77
Dieser Ansatz soll auch und besonders im Falle der neunten Sinfonie verfolgt werden.
Darüber hinaus entspricht er dem von der These geforderten Denkansatz.
Erst elf Jahre nach seiner achten Sinfonie beendete Beethoven (1770–1827) die neunte
Sinfonie in d-Moll. Sie entstand in den Jahren 1823/24 und wurde am 7. Mai
1824 im Wiener Hoftheater uraufgeführt. Die Gründe für die lange Zeitspanne
zwischen der achten und der neunten Sinfonie sind vielfältig. Nicht nur plagen
Beethoven zu dieser Zeit Krankheit und andere häusliche Sorgen, sondern vor
allem auch die politischen und musikalischen Verhältnisse, die sich gewandelt
hatten.
Politischer Hintergrund
Die Restauration dominiert in dieser Zeit, was Beethoven nur schwerlich passen konnte. Der
Wiener Kongreß von 1814/15 brachte die Restauration der alten Mächte. Österreich hatte
politisch wie territorial über den Sturz Napoleons triumphiert. Als Metternich nach dem Sieg
über Napoleon die Einberufung des Friedenskongresses nach Wien erklärte, stand die Stadt
erneut im politischen Rampenlicht. In dieser Hinsicht nahm Wien schnell seine Rolle als die
Stadt überschwenglicher Lebensfreude und Unterhaltung wieder auf. Der österreichische Kaiser
Franz I. war bestrebt, Macht und Einfluß des habsburgischen Reiches wiederherzustellen. Dieses
Vorhaben fand taktische Unterstützung durch Metternich, der nun als Staatskanzler darauf
hinarbeitete, international ausgewogene Machtverhältnisse zwischen Österreich und den anderen
Staaten zu erreichen, innenpolitisch jedoch kompromißlos demokratische Bewegungen im
Sinne der Restauration unterdrückte. So wehrte der Wiener Kongreß die von der
Französischen Revolution ausgehenden nationalen und liberalen Anstöße ab und wahrte das
Bestehende. Unter der scharfen Zensur von Metternich konnte sich liberales Gedankengut
kaum ausbreiten. Als der Kongreß zu Ende ging, hatte Wien sein Antlitz verändert.
Die Stadt war verarmt, ein Teil des Adels unwiderruflich bankrott. Geldverleiher
und Bankiers gewannen nun an Bedeutung, die Macht der Unternehmer nahm zu.
Zukünftig kam es ihnen zu, die Förderung des künstlerischen und musikalischen Lebens zu
übernehmen.78
78 Wilhelm Seidel: »9. Symphonie d-Moll, op. 125.« In: Riethmüller/Dahlhaus/Ringer 1994, Bd.
II, S. 252–253; vgl. auch Anne-Louise Coldicott: »Historischer Hintergrund. Die politischen
Verhältnisse.« In: Barry Cooper (Hrsg.): Das Beethoven-Kompendium. Sein Leben – seine
Musik. London 1991, S. 68–73.
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Dahlhaus bezeichnet Beethoven als einen – freilich enttäuschten – Fürsprecher der Französischen
Revolution, als einen »Anhänger nicht allein der Idee, sondern auch der wie immer fragmentarischen
Realisierung.«79
79 Carl Dahlhaus: Ludwig van Beethoven und seine Zeit. Laaber 1987, S.42.
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Geck hingegen stellt die Frage, ob Beethoven lediglich ein Anhänger Napoleons als
des Vollstreckers und Vernichters dieser Revolution war. Er behandelt diese Frage
in einem allgemeineren Kontext. Die von Beethoven apostrophierten »Bessern und
Weisen« seiner Zeit waren von dem Wunsch beseelt, dem gesellschaftlichen, sogar
menschlichen Fortschritt »Kopf, Herz und Hand« zu leihen. In Frankreich entfachte die Glut
von Aufklärung und Rousseau-Nachfolge das Feuer der Revolution. In Deutschland
förderten konzentrierte Denkbewegungen die Philosophie und Kunst des Idealismus.
Beiden gemeinsam, so Geck, sind die Ablehnung des »alten«, die Individualität und
Freiheit des einzelnen fesselnden Systems und der Glaube an die Bereitschaft des
mündigen Menschen, seine Fähigkeiten in sittlicher Verantwortung zum Wohl des Ganzen
einzusetzen.80
Die Haltungen und Handlungen der Zeitgenossen mögen zwar großherzig und weitsichtig
gewesen sein, doch genauso oft unklar, halbherzig
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