ihm um in ein unberechenbares
Triebleben, das durch Gewalt und Sex dominiert wird. Damit setzt er sich
von seiner Außenwelt ab. Schließlich fungiert Rossinis Musik auch als eine Art
verbildlichte Musik, denn die scheinbare musikalische Stilisierung seiner technisierten
Umwelt findet ihr Pendant in Kubricks Synthese aus Geräuschen und Musik,
die hier zu einer »Lärmsinfonie« zusammentreten. Die Begrenzung der Szene
durch die verfallene Bühne weist dieser Szene letztlich die Dimension zu, die
bereits durch die Musik ausgewiesen ist: sie ist ein ästhetisches Spektakel, das
als Ereignis nur um seiner selbst willen ohne jeden tieferen Sinn aufgeführt
wird.
Hiermit setzt die Semantisierung des Zitats durch den Film ein. Diese liegt
in der Ästhetisierung von Gewalt. So wie Kubrick die Schlägerei als eine Art
»Ballett-Performance« stilisiert, wird die musikalische Turbulenz der Ouvertüre zum
Inbegriff der dionysischen Lebenseinstellung von Alex. Durch die ästhetische Variante
überbrückt Kubrick die Schere zwischen Abscheu und Faszination dieser Performance.
Bezeichnenderweise verschwindet die Ouvertüre am Ende des ersten Teils der Trilogie. In
dem Moment, wo Alex die Möglichkeit genommen wird, seine dionysischen Triebe
auszuleben, verschwindet auch die Ouvertüre. Kubrick nutzt hier die semantische
Neubesetzung, indem er die Prügelszenen am künstlichen See ebenfalls mit der
Ouvertüre unterlegt.
11.2.4. Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 9, II. Satz Molto Vivace
11.2.4.1 Der musikalische Kontext des Zitats
Geck weist auf ein Problem der Beethoven-Forschung hin, das für die Erläuterung der
Neunten ebenso bedeutsam sein dürfte: die Frage des »Beethoven-Mythos«.
Kein Geringerer als Richard Wagner habe dazu beigetragen, daß im Mythos
Beethoven Texturen aus Werk und Leben unentwirrbar ineinander verwoben
sind:
»Nicht also das Werk Beethoven’s, sondern jene in ihm enthaltene unerhörte
künstlerische That haben wir hier als den Höhepunkt der Entfaltung seines
Genius’ festzuhalten.«76
76 Richard Wagner 1870, zit. n. Geck 1997, S. 9.
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So äußert sich Wagner im Jahre 1870 in seiner emphatischen Beethoven-Schrift. Vor
diesem Hintergrund setzen sich auch die schmuckloseste Biographie und die nüchternste
Werkbeschreibung dem Verdacht aus, ihrerseits am Mythos Beethoven zu weben.
Natürlich ist es die Aufgabe der Forschung, Legendäres und Anekdotisches von
Authentischem zu trennen. Doch was ist in einem höheren Sinne authentisch? Der
Vorsatz, sich lediglich auf das Werk und dessen immanente Struktur zu konzentrieren,
führt zu einer nicht weniger nachhaltigen Begegnung mit dem Mythos Beethoven.
Leben, Denken und Schaffen, so Geck, sind bei Beethoven so eng miteinander
verwoben wie bei keinem anderen Komponisten. Daß seine Werke gleichermaßen
abgeschlossen wie interpretationsbedürftig sind, nötigt zu einem Ansatz, bei dem das
Phänomen Musik mehr denn je als Subjekt-Objekt-Spannung
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