- 352 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Auswüchsen in Gestalt der Droogs wird die Bedeutung der Schlägerei und der folgenden Einstellungen deutlich: die Droogs erscheinen in jenem Naturzustand, in dem sie lustvoll morden und animalisch schreien. Die Einstellung 32 zeigt Alex nach einem Zoom in einer Halbtotalen, der die künstlichen Augenwimpern deutlich hervortreten läßt, ähnlich wie in der achten Einstellung. Entsprechend der Bedeutung des Auges in der Tradition des 18. und 19. Jahrhundert, wird Alex’ Auge hier zum Sitz des bösen, dionysischen, gesellschaftlich verachteten Triebes. So folgen mehrere Einstellungen, in denen er andere Autofahrer in seinem dionysischen Wahnsinn provoziert (Einstellungen 33 bis 39), während die Reprise der Ouvertüre uneingeschränkt tänzelnd weiterläuft. Nachdem Alex den »Mordstrip mit großer Schaffe« aus dem off angekündigt hat, beginnt auch bereits die Schlußgruppe der Reprise – schon wieder setzt Kubrick an einem musikalischen Wendepunkt auch einen Orts- und Handlungswechsel. Die Musik erhält dadurch eine syntaktisch filmgliedernde Funktion (Motte-Haber). In den letzten zwei Einstellungen nähern sich die Droogs dem Haus des Schriftstellers, die Ouvertüre wird ab Takt 404 langsam heruntergefahren bis sie im Takt 412 ganz ausgeblendet wird.

Obwohl wirkungsanalytisch ein Kontrapunkt vorliegt, ist die Musik formal wie funktionsanalytisch eine Paraphrasierung: so stimmt die gesamte Rhythmik der visuellen Ebene mit der Ouvertüre überein. Damit erweist sich Kubrick als visueller Vollstrecker von Rossinis Idee des rhythmischen Credos. Der tänzelnde Charakter der Ouvertüre verleiht der Schlägerei das, was Kubrick durch die Gewalttaten von Alex verdeutlichen will: Alex unterliegt nicht dem krankhaften Zwang nach Perversion und Gewalt, sie stellt für ihn einen ästhetischen Genuß dar, sie ist Teil seiner »Lebensfreude«. So wird auch die Schlägerei zu einem ästhetischen Spektakel, einem Tanz der Figuren. Damit repräsentiert Kubrick zugleich zum ersten Mal jenen dionysischen Wahnsinn, welcher einer aufgeklärten Gesellschaft ein Dorn im Auge ist, da er durch die Mittel der Vernunft weder erklärbar noch zu beherrschen ist. Der semantische Gehalt des Rossinischen Kontext wird insofern deutlich, als daß Rossinis Persönlichkeit wie auch seine Musik in dieser Szene vollständig funktionlisiert werden: überschäumendes Temperament, Komik, Witz und Leichtigkeit sind Merkmale, die Kubrick ironischerweise anhand einer Schlägerei thematisiert. Dabei verabreicht der vitale Schwung der Ouvertüre den Figuren neben seiner syntaktischen Funktion ebenso ein offenkundiges Psychogramm. Als solche agiert die Musik nicht nur als Bildillustration, sondern ebenso als psychologische Bildinterpretation. Alex’ Lebenseinstellung ist an dieser Stelle noch geprägt durch dionysisch oberflächliche Vergnügungssucht, die ihr Pendant in der mechanischen Vitalität der Ouvertüre findet. Darüber hinaus reagierte Rossini wie Alex im Film auf die Umgebung mit zynischer Freude. Bei Rossini ist es die Reaktion auf die restaurative Politik und der Beginn einer neuen industriellen Ära, bei Alex die Ablehnung der sterilen Ordnung einer bürgerlichen Gesellschaft. Während Rossini in seiner Ouvertüre durch jene ratternden Triolen, durch kompositionstechnisch monotone, aber vom Ausdruck her lebendige Steigerungen eine Gegenwelt zur tristen Alltagsrealität der politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen errichtet, lebt Alex seine dionysischen Triebe in einer sterilen und geordneten Gesellschaft aus. Die ironische Distanz, die Rossini durch seine eigenen Kompositionen schafft, errichtet Kubrick durch die Gewaltszenen. Die Kälte der Gesellschaft, die Alex umgibt, schlägt bei


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