- 351 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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eine Szene könne dadurch ins Komische abweichen; Motte-Haber sieht in der Technik die Gefahr des Künstlichen, wodurch die Musik sich nicht mehr analog zum Bildinhalt verhält. Gerade diese Vorurteile funktionalisiert Kubrick. Es liegt in seiner Absicht, der Szene gerade eine »komische« Seite abzugewinnen, indem er die scherzhaft tänzelnden Themen der Ouvertüre einer Szene entgegensetzt, die ohne Musik um ein Vielfaches brutaler und entsetzlicher wirken würde. Die Brutalitäten werden in den Einstellungen 12 bis 28 zu einer perfekt durchgestylten »Horror-Show«, wobei die Betonung auf dem Wort »Show« liegen muß. Alex und seine Droogs werden zu Aktionskünstlern. Zu Rossinis Walzertakt bieten sie eine Vorstellung, die für Alex einen ästhetischen Genuß darstellt. Gewalt wird mit Hilfe der tänzelnden Leichtigkeit von Rossinis Musik zu einem ästhetischen Spektakel, worin sich auch die Kompositionsauffassung des Komponisten widerspiegelt: er begreift seine Kompositionen nicht mehr als Ergebnis eines kompositorischen Vorgangs, dessen Sinn sich durch die Interpretation erschließt; seine Ouvertüre ist vielmehr das Beispiel einer Mechanik, die einem Räderwerk gleicht. Das »Gedröhne der Industrie« wird bei ihm zum turbulenten Lärm wie bei Kubrick Gewalt zu einem turbulenten Spektakel. »Wirkung ohne Ursache«, so schreibt Holland. So ist auch Alex’ Hang zu Schlägereien eine Wirkung ohne Ursache, denn er und seine Droogs treffen zufällig auf die Billyboy-Bande und inszenieren eine »Horrorshow«. Beharrlich steigert Rossini in den Takten 253 bis 264 jenes Dreiklangsmotiv in einem mechanisch trottenden Staccato, während die unkontrollierte bewegliche Kamera die Turbine der Schlägerei widerspiegelt.

In Takt 265 bricht die Melodie in die für Rossini typischen Crescendo-Spiralen aus (bis Takt 274), parallel dazu verdichtet sich die visuelle Ebene. Die Crescendi erhalten dadurch eine geradezu physische Gestalt. Die Schnitte erfolgen fast ausschließlich bis auf die Einstellung 22 dicht gedrängt zum vollen Takt. Auf dem Höhepunkt der Steigerung (Beginn der Überleitung) wirft Dim seinen Gegner von einer Empore, der Aufprall fällt wieder exakt mit der akzentuierten Eins des nächsten Taktes zusammen, ebenso wie die zerberstende Fensterscheibe in Takt 278. So wie die Überleitung das Ende der Exposition andeutet, so neigt sich auch die Schlägerei schnell ihrem Ende zu. Die Einstellung 29 macht das verheerende Ergebnis sichtbar: die Droogs schlagen zum Tremolo der Streicher brutal auf ihre am Boden liegenden Gegner ein. Als die Steigerung in Takt 290 verhallt, hält auch Alex in seiner Bewegung inne – ein Hinweis, daß Kubrick die Dramaturgie dieser Szene eindeutig der Musik anpaßt. Im synkopierten Verhältnis zu den Triolen der Violinen ertönen nun Polizeisirene und Alex’ Pfiffe, mit denen er das Ende der Schlägerei einleitet. Mit dem Beginn der Reprise verlassen die Droogs den Schauplatz. Kubrick paßt die Szene somit nicht nur einzelnen Motiven oder der motorischen Rhythmik der Musik an, sondern auch der übergeordneten Struktur, wobei sich eine analoge Beziehung zwischen musikalischer Struktur und Handlung bzw. Ort ergibt. Die Motorik der Schlägerei wird durch die des Autos fortgesetzt, ebenso wie die rhythmische Motorik des ersten Themas. Hat Kubrick bereits während der Schlägerei einen deutlichen Kommentar zur »Ur-Bestie« im Menschen abgegeben, so konfrontiert er den Zuschauer auch hier wieder durch die fiktive Nähe der Kamera mit dem dionysischen Wahnsinn seiner Figuren (Einstellungen 32, 34, 36, 38 und 40). Aus dem Riß zwischen gesellschaftlicher Verdrängung von Natur und ihren dionysischen


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