- 350 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Zuschauerraum einfängt. Sie entfernt sich vom Geschehen. Von der Wirkung her betrachtet, liegt hier wiederum ein klarer dramaturgischer Kontrapunkt vor, denn der scherzhafte Walzertakt, das tänzelnde Wechselspiel zwischen Streichern und Flöten, steht im krassen Widerspruch zu der Vergewaltigung des Mädchens. Doch Alex’ Kommentar aus dem off deutet bereits auf die Funktion der Musik hin, wenn er bei der »Vorstellung« von einem »alten Rein-Raus-Spiel« spricht.

Während die Kamera die zweite Einstellung noch aus der Weite erfaßt, zwingt Kubrick dem Zuschauer in der nächsten ähnlich wie in der ersten Sequenz eine Nähe auf, die er lieber vermeiden würde: die Kameraperspektive springt bei der Wiederholung des Kopfmotivs in den Streichern plötzlich in eine Halbtotale, die das perverse Geschehen auf der Bühne aus nächster Nähe zeigt, wodurch die groteske Wirkung noch verstärkt wird. Der Distanzwechsel wird wiederholt, als die Kamera in der vierten Einstellung plötzlich wieder in die Weite zurückspringt, in der fünften das Geschehen jedoch wieder aus nächster Nähe verfolgt. Kubrick geht freizügig mit der Originalpartitur um, denn er wiederholt das zweite Thema (Takt 171 bis 219), um nochmals eine Einstellung auf das Geschehen auf der Bühne zu verwenden. Genau auf dem Zielton d” der aufsteigenden Triolenbewegung erfolgt ein extremer Gegenschuß, der den mit Glassplittern besäten Boden des Zuschauerraums aus einer Aufsicht zeigt und aus dem Alex und seine Droogs wie aus dem Nichts auftauchen. Das polternde Geräusch der Flasche ähnelt der Klangfarbe der Flöte, steht jedoch im krassen Gegensatz zum Taktmetrum. Doch Kubrick trägt seinem Symmetriegedanken sofort wieder Rechnung, denn Alex spricht seine provozierenden Worte exakt im Takt der Musik und entsprechend jeweils den Akzentuierungen des Walzertaktes (vgl. Einstellung 6 und 7). Die Alberti-Bässe halten nicht nur das Taktmetrum, sondern auch die Einstellung zu den Worten von Alex in Bewegung. Auf das Geräusch von Billys springender Klinge wird die Musik, die vorher zugunsten von Alex heruntergefahren war, nun wieder lauter. Auf Billys Aufforderung beginnt die Saalschlacht zwischen der Billyboy-Bande und den Droogs. Das getupfte Dreiklangmotiv der Schlußgruppe wird immer beharrlicher bis die Schlägerei in der zwölften Einstellung beginnt, die vornehmlich aus einer Serie halbnaher und halbtotaler Aufnahmen besteht. Das schrille Kampfgeschrei der Bandenmitglieder deckt sich mit den schrillen Tönen der Flöte (Einstellung 13). Kubrick schneidet hier ganz eindeutig nach dem Takt der Musik, ebenso wie er die Geräusche im Takt einblendet. So erfolgt der Schnitt in der Regel während der Bewegung, so daß die Geräusche wie zerkrachende Stühle, zerberstende Flaschen oder Fensterscheiben mit der Eins oder der Drei des nächsten Taktes zusammenfallen. Kubrick inszeniert die Schlägerei als Bühnenspektakel, was auf den Opernkontext verweist. Nicht zuletzt findet die Schlägerei in einem verfallenen Theater statt. In dieser Szene hat Kubrick die Technik des mickey-mousing am deutlichsten verwirklicht, denn die absolute Synchronität von Schnitt und Bewegung im Bild und den dadurch ausgelösten Geräuschen lassen die sich bekriegenden Banden wie Figuren eines Balletts erscheinen, die in geübter Choreographie einen »Tanz der Gewalttätigkeiten« vorführen. Die Symmetrie der Musik, in der Rossini die Kopfmotive seiner Themen in ratternder Folge wiederholt, findet ihr Pendant auf der visuellen Ebene. Durch das »Ballett der Objekte« (Motte-Haber) funktionalisiert Kubrick jene Vorurteile, die Filmtheoretiker gegen die Technik erheben. Schneider befürchtet,


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