- 344 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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bereits angedeutet als Potpourriouvertüren in Erscheinung, in denen die Themen nicht mehr der stringenten sinfonischen Form folgen. Vielmehr entnimmt Rossini Themen der beliebtesten Melodien der Oper und reiht sie mehr oder minder kunstvoll aneinander.60
60 Leichtentritt 1987, S. 178–179.
Immer wieder betonte er den Rang von Melodie und Rhythmus. Seine musikalische Grundhaltung: Kompositionen sind austauschbar, der Akt des Komponierens wird zur Mechanik, gleich einem Räderwerk. Diese Grundhaltung brachte Rossini letztlich in eine ironische Distanz zu seinem eigenen Schaffenstrieb, so daß er auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn im Jahre 1829 seine Bühnentätigkeit beendete.

Ein charakteristisches musikalisches Phänomen, an denen man die obengenannten Begriffe der Vitalität messen kann, sind Rossinis Crescendo-Spiralen, die Holland zum »Gütezeichen« seiner Ouvertüren erklärt. Diesen legt Rossini ein Formschema zugrunde, das mit geradezu mechanischer Präzision abläuft: Langsame Einleitung (oft im Charakter eines Maestoso), schneller Hauptteil mit zwei Themen, die sich frei entfalten, gerafft und erweitert werden, dann plötzlich in einem Ritardando innehalten, neu ansetzen und schließlich in eine krönende Coda münden. In Wiederholungen und Sequenzierungen wird das Material nicht symphonisch durchgeführt, sondern gereiht. Dadurch entsteht eine flächige, großräumige Wirkung. Das Modell, das dem zugrundeliegt, ist austauschbar. Rossinis Motivmaterial ist von geradezu provozierender Banalität: kurze Motive oder nur Motivfetzen, dennoch rhythmisch prägnant und von zündender Schlagkraft durch ihre simplen Tonika-Dominant-Wechsel. Die Begleitung erschöpft sich in Wiederholungen, während die Motive in den Crescendi zum immer weiter hinausgeschobenen Ende vorwärtsdrängen. Das entscheidend Neue an Rossinis Crescendo-Spiralen ist das mechanische Element und die Präzision der ineinandergreifenden Teile. Rossini hat das Crescendo populär gemacht, bei seiner Ankunft in Paris bezeichnete man ihn sogar als »Monsieur Crescendo«.61

61 Scherliess 1993, S. 48–49.
Holland sieht darin eine Reaktion des Komponisten auf das beginnende industrielle Zeitalter, in der das »rhythmische Stampfen« seiner Melodik der schnöden Realität von frühindustriellen Dampfhämmern und Fließbandproduktionen entspricht. Seine turbulente Musik nimmt damit, so Holland, den unaufhaltsamen Zerfall des Hörerverhaltens als kompositorische Dimension in sich auf. So werde das Gedröhne der Industrie zur reinen Lust am turbulenten Lärm. Die Mechanik seiner Musik kommt besonders in der Stretta der Ouvertüren, aber auch in den Opernfinales zum Ausdruck. Hier schlägt die bedrohliche Mechanik des neuen Zeitalters um in ein lustvolles Um-sich-Kreisen, das Rossini mit geradezu perfektionistischer Besessenheit komponiert. Die Sinnlichkeit der Musik zahlt dem neuen Zeitalter ihren Tribut, indem sie auf jegliche »Tiefe« verzichtet und ihren Sinn im bloßen Dasein, in der »Wirkung ohne Ursache«62
62 Holland 1987, S. 355.
, bestenfalls in der turbulenten Gegenwelt zur tristen Alltagsrealität des heranwachsenden industriellen Zeitalters findet. Daß beispielsweise seine Crescendo-Spiralen nirgendwo hinführen, ist die musikalische Wahrheit des Komponisten. Auch Schreiber bringt Rossini in den Zusammenhang mit der beginnenden Industriellen Revolution. So vergleicht er beispielsweise Rossinis »ratternde Triolenfiguren« in vielen seiner Ouvertüren

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