- 339 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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angetan hat, als dieser gefesselt und geknebelt die Vergewaltigung seiner Frau mit ansehen mußte. Die Verteilung der Facetten des Ichs von Alex und seinem Doppelgänger Mr. Alexander geht auf. Der Feind des Protagonisten (Mr. Alexander) ist ebenso eine Verdopplung seines eigenen Ichs (Alex wird ebenso zum Opfer). Indem der Staat seine Sehlust gewaltsam kappt, zerstört er auch Alex’ Individualität. Eine weitere Filmbehandlung zerstört ihm dazu auch noch sein Kunstverständnis, denn er wird versehentlich gegen die Neunte Beethovens »umprogrammiert«.

Nach zwei Wochen wird Alex entlassen. Aus dem dionysischem Störenfried, dem Verletzer des Gesellschaftsvertrages ist jenes Uhrwerk, jene Maschine geworden, auf die der Titel anspielt. Alex kann nur noch mechanisch auf Gewalt und Sexualität mit äußerster Übelkeit und seiner eigenen (!) Todessehnsucht reagieren. Dies wird zu einem Schauspiel gemacht, wobei Alex nun das Opfer der Vorführung wird. Wiederum ist es der Gefängnisgeistliche, der seine Bedenken offen ausspricht: »Was ist mit der freien Entscheidung? Dieser Junge konnte sich niemals frei entscheiden! Selbsterhaltungstrieb und Angst vor physischen Schmerzen trieben ihn zu dieser grotesken Show von entwürdigender Selbstverleugnung! Diese Unaufrichtigkeit ist deutlich zu durchschauen! Er wird nichts Böses mehr tun, [...] aber er ist [...] auch kein Wesen mehr, das einer freien Entscheidung fähig ist!«

Die Entscheidung wurde Alex vom Staat abgenommen, der darüber befindet, was Böse und was Gut ist. Der moralische Imperativ wird erneut zum Mittel der Herrschaftsausübung, jedoch jenseits der Moral, die der Geistliche anspricht, oder gar jeder Ethik. Mit der »Bekämpfung der Gewalt auf den Straßen« knüpft Kubrick auch an das Thema der Popkultur an, die dem Genre des Films zu eigen ist. Doch verbindet er damit wiederum seine zugrundeliegende Dialektik, denn die Popkulturen werden zum Inbegriff des natürlichen Feindes, der vom Staat systematisch durch Umprogrammierung bekämpft wird – nach den Worten des Innenministers »die Bekehrung zur Freude aller Engel im Himmel«, die das reibungslose Funktionieren von Individuum und Gesellschaft regeln soll. Die Verlogenheit der staatlichen Doktrin ist offensichtlich und begründet hiermit Kubricks allgemeine Negierung des 18. Jahrhunderts, da die Aufklärung sich letztlich gegen sich selbst richtet.

Dies zeigt sich im folgenden dramaturgischen Verlauf: Alex ist zu einer Maschine geworden, die nur noch mechanisch auf Sex und Gewalt reagiert. Doch entsprechend Kubricks Menschenbild zeigt Alex nun als »Maschine« Emotionen und führt ein Eigenleben, das seine Umwelt nicht nachvollziehen kann. (Joe reagiert mit Abscheu auf Alex’ Übelkeitsanfall). So wie HAL über sein nahes Ende ein weinerliches Kinderlied in 2001 singt, weint Alex über sein Schicksal. Rossinis melancholisches Cellothema paraphrasiert seine Emotionen. Er wird zum Opfer der gesellschaftlichen Regel, die Kubrick scheinbar nicht oft genug anklingen lassen kann: »Früher hast du immer getreten, da ist es jetzt nur recht, wenn du selber ’dran bist!« (Joe) Alex findet den Anschluß an die gewalttätige Gesellschaft nicht mehr. Seine Eltern setzen ihn auf die Straße. In den folgenden Szenen schließt sich die Symmetrie, die Kubrick in der Exposition vorbereitet hat, denn Alex begegnet nacheinander seinen früheren Opfern, die nun alle zu Tätern werden: dem Clochard, der sich mit seinen Kumpanen grausam an ihm rächt und seinen alten Droogs Georgie und Dim, die mittlerweile ihre Gewalt in einer Polizeiuniform ausüben und ihn brutal


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