- 338 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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wird. Die staatlich reglementierte Ordnung manifestiert sich hier besonders in der Person des Oberwachtmeister Barnes. Während der folgenden ersten Behandlung von Alex nach der Ludovico-Methode ist Kubricks Bezug zur Religion unverkennbar, genauer gesagt, sie wird blasphemiert. Die Elektroden, die Alex während der Therapie an den Kopf gesetzt werden, erinnern an die Dornenkrone Christi, ein Eindruck, der durch die kreuzweise gefesselten Arme in der Zwangsjacke noch verstärkt wird. Alex durchläuft während des dramaturgischen Verlaufes eine Passion, aber es ist allen ikonographischen religiösen Zitaten zum Trotz nicht der Leidensweg Christi, sondern der eines Mörders und Vergewaltigers. Ihm wird ein Serum injiziert, seine Augenlider werden durch Klammern künstlich offengehalten, so daß er zum permanenten Hinsehen gezwungen ist. Kubricks Bezug zur Bedeutung des Auges wird hier wiederum funktionalisiert. Das Auge, das bis in das heutige Medienzeitalter das wichtigste Organ der Ratio ist, stellt den soziokulturellen Nährboden für die optischen Medien dar, auch für das Kino. Dieses bietet dem Betrachter eine Ersatzwelt, die als Abbild der äußeren Welt als real erscheint.47
47 Vgl. Kracauer, Kap. 1.3.
Kubrick deutet hiermit auch den Typus des modernen Voyeurs an. Auch Alex macht die Erfahrung einer Realität auf der Leinwand. In einem Kino werden ihm Filme mit »ultra-brutalen Vergnügungen« gezeigt – Alex’ bisherige Hauptbeschäftigung: »Komisch, daß die Farben der wirklichen Welt erst wirklich echt aussehen, wenn man sie auf dem Screen sieht.« Gewalt wird hier zu einem Kinoerlebnis. Doch entgegen Alex’ ursprünglichem Naturell wird ihm jene Sehpassivität, die zum modernen Typen des Voyeurs führte, gewaltsam anerzogen, denn er kann seine Augen nicht schließen und sitzt hilflos vor der Leinwand. Zu Beginn der Therapie reagiert Alex auf die Darstellung seiner vorherigen Realität in Form der Kinorealität durchaus lustvoll und zufrieden. Das Serum bewirkt jedoch langfristig in ihm einen Brechreiz bei jeder Darstellung von Gewalt und Sexualität, so daß er bald nur noch mit Übelkeit und absoluter Paralyse reagieren kann. Die kontrollierbare und zugleich gewaltsame Mechanisierung von Alex’ Reflexen wird durch Carlos’ Synthesizer-Komposition Timesteps illustriert. Ein synthetischer, unkontrollierter Sound, der die so groteske Heilung von Alex dokumentiert. In der Bekämpfung seiner gewaltsamen Impulse wenden die Ärzte selbst eine Gewalt an, die jedoch staatlich legitimiert ist. Dementsprechend vertreten die Ärzte die Gesellschaft. Sie bekämpfen in Alex jene unbeherrschbare Natur von Gewalt und Sexualität, die der aufgeklärten Gesellschaft ein Dorn im Auge ist. Die Körper- und Naturverbundenheit von Alex wird brutal mechanisiert: er fühlt sich seelisch am Ende und reagiert körperlich mit Übelkeit: »Nichts ist grauenhafter als Brutalität! Genau das lernen Sie hier, Ihr Körper lernt es!« bestätigt Dr. Branom nach der Sitzung. Alex Übelkeit dürfte jedoch nicht nur an dem verabreichten Serum liegen, sondern vor allem daran, daß er zum passiven Zuschauer gemacht wird. Gefesselt und mit künstlich offengelassenen Augenlidern wird die ihm ursprünglich so eigene Sehlust zum Sehzwang, der von außen auferlegt ist. Während das Auge vorher als Sitz des Bösen Inspirationsquelle für sein Handeln war, verharrt er nun beim reinen Sehen. Er ist ein Behandelter und wird zu einem zur Passivität gezwungenen Zuschauer. Kubrick spielt hier seine Doppelgängermotivik ein weiteres Mal aus: indem Alex im Kinosaal zum gefesselten Voyeur wird, erfährt er am eigen Leibe, was er eingangs seinem Doppelgänger Mr. Alexander

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