- 337 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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wirklich von Grund auf gut? Güte kommt von innen – heißt: frei wählen. Kann ein Mensch nicht wählen, ist er nicht mehr Mensch. . . « Damit unterminiert der Geistliche die von der Gesellschaft verzerrten aufklärerischen Ideale, die sie für sich beansprucht, im Grunde jedoch verzerrt, da der moralische Imperativ in der aufgeklärten Gesellschaft zum Mittel der Herrschaftsausübung wird. Der Pfarrer ist daher der einzig »anständige« Mensch im Film, da er jene Ideale von Freiheit und Gleichheit noch unbelastet in ihrer ursprünglichen Bedeutung erfaßt. Umso verlogener wirken dagegen Alex’ Gebete. Er versteht die Worte des Geistlichen nicht. Zwar hat er seine Individualität gegen die Außenwelt durchgesetzt, doch dies nur mit Gewalt, humanistische Ideale hingegen sind ihm fremd.

Den Besuch des Innenministers (Szene 19) karikiert Kubrick mit Edward Elgars erstem Marsch aus seinem Werk Pomp and Circumstance op. 39. Das zitierte Trio Land of Hope and Glory, Mother of the Free wirkt nur allzu zynisch in Anbetracht der Tatsache, daß der Innenminister das Gefängnis besucht, um ein geeignetes Versuchsobjekt für die Ludovico-Methode zu finden, die aus Alex letztlich ein willenloses, da nicht gewalttätiges, unfreies Opfer der Gesellschaft machen wird. Wiederum deckt Kubrick die Verlogenheit staatlicher Instanzen auf, die sich unter dem Deckmantel humanistischer Ideale ihre Herrschaft ausüben - dieses Mal durch den »Staatskomponisten« Elgar. So entspricht sein patriotischer Militärmarsch nicht nur Kubricks Dialektik, sondern ebenso der gesamten visuellen Ebene. Die Gleichmäßigkeit des 2/4-Taktes findet ihre Entsprechung gleich zu Beginn in der symmetrischen und sterilen Anlage des Gefängnisflures. Geometrische Symmetrie illustriert auch der Antritt der Häftlinge auf dem Hof. Nichts prägt die Kubricksche Bildersprache mehr als der geordnete Raum (der Hof) und die mathematisch exakt kalkulierte Strenge: Die Häftlinge stehen in zwei Reihen ausgerichtet, deren Anordnung parallel zu den Hofmauern und damit auch zum Bildrand verläuft – ein ins Absurde gesteigerter Ordnungswahn einer leblosen Gesellschaft, die Kubrick zynisch konterkariert. In der Person des Innenministers, der bereits die Heilmethode mit dem »Abtöten des kriminellen Reflexes« andeutet, wird auch Kubricks konstantes Motiv des »Übervaters« von Alex deutlich. Während im ersten Teil der Trilogie bzw. in der Exposition Alex’ leiblicher Vater als schwach und ohne jedes Durchsetzungsvermögen hingestellt wird, tritt Mr. Deltoid an die Stelle des Übervaters. In Alex’ zweiter Phase, in der er zum Opfer des Staates wird, besetzt bezeichnenderweise der Innenminister diese Stelle. Der Gefängnisdirektor deutet bereits seine Bedenken gegen die Heilmethode an, als er Alex aus dem Strafvollzug entläßt. Diese sind jedoch weniger ethischer Art, sondern entsprechen ganz dem staatlich legitimierten Schema von Gewalt und Gegenwelt: »Auge um Auge. Wenn dich jemand schlägt, schlägst du doch zurück! Warum sollte dann nicht auch der Staat, der von euch brutalen Mordgesellen am härtesten betroffen ist, nicht auch zurückschlagen, oder? Aber der neue Weg sieht vor, Schlecht in Gut zu verwandeln. Mir scheint das in höchstem Maße ungerecht zu sein.« Damit bedauert der Direktor ganz offen, um sein Herrschaftsausübung betrogen worden zu sein. Die Entscheidung über Gut und Böse obliegt ihm im Falle von Alex nicht mehr, sie wird ihm von anderer Seite abgenommen.

Elgars vierter Marsch aus seinem Werk Pomp and Circumstance konterkariert ein weiteres Mal das visuelle Geschehen, als Alex in die Ludovico-Anstalt überführt


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