- 336 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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staatliche Folter ankündigt. Alex wird zu vierzehn Jahren abgeurteilt und in den Strafvollzug überführt. Bezeichnenderweise verschwinden in diesem und in allen folgenden dramaturgischen Abschnitten die vorher zitierten rhythmisch rasanten Ausschnitte aus Rossinis Diebischer Elster und Wilhelm Tell. Sie standen ausschließlich für Alex’ dionysisches Lebensprinzip, seinen Instinkten und Wünschen nach ästhetischem Genuß planlos und unberechenbar zu folgen. Stattdessen zitiert Kubrick nun ein melancholisches Cellothema aus Rossinis Wilhelm Tell-Ouvertüre, das Alex’ Auslieferung an die staatliche Macht illustriert. Kubrick nutzt die Stimmung des zitierten Satzes und läßt Alex nochmals zum Zuschauer aus dem off sprechen: »Nun beginnt der wirklich zu Herzen gehende und geradezu tragische Teil meiner Geschichte, o meine Brüder und einzigen Freunde.« Kubrick karikiert hier bewußt Anklänge an den barocken Schelmenroman, in dem Alex als Protagonist zunächst das »eitle Welttheater« durchschreitet, das aber grundsätzlich ein »heilloses Jammertal« ist. Dafür sprechen auch Alex’ gestelzte Worte (»O meine Brüder, euer ergebener Erzähler«), mit denen er den Zuschauer anspricht. Während dieser am Anfang noch eine befremdliche Nähe zu Alex’ impertinentem Blick verspürt, wandelt sich seine Rezeptionshaltung nun in Identifikation und Mitleid, Kubrick spielt bewußt mit der Ambivalenz der Sympathie. Alex bekommt die Sterilität der Gesellschaft nun zu spüren: menschliche Kontakte werden hinter weißen Linien ausgeführt, er muß eine entwürdigende Aufnahmeprozedur im Gefängnis über sich ergehen lassen. Seine Individualität geht verloren, er wird nicht mehr als Mensch behandelt, sondern nur noch als Nr. 655321.

Alex’ Gefängnisalltag mit den homosexuellen Annäherungen seiner Knastbrüder bildet die Basis für Kubricks Motiv der reinen Männerwelt. Die Angst des Bürgertums vor Neigungen wie Homosexualität wird in dieser sterilen Männerwelt des Gefängnisses durch die Figur des Wärters karikiert. Er ist sichtlich erleichtert, als Alex ihm seine Frage nach möglicher Homosexualität mit einem klaren Nein beantwortet. Doch im Gefängnisgottesdienst wird deutlich, daß Homosexualität in einem Männergefängnis durchaus an der Tagesordnung liegt. Der Wärter bemüht sich um sichtliche Ignoranz, was wiederum sexualfeindlichen Normen bürgerlicher Moral entspricht.

Auch die anfangs angedeutete ursprüngliche heilige Trinität wird in Szene 18 endgültig sinnentleert und karikiert, denn Alex stellt sich seine Gewalttaten – durch die Bibel animiert – auf Golgatha vor: »Ich las alles über die Auspeitschungen und die Dornenkrone und stellte mir vor, wie ich selbst dabei half und eifrig mittollschockte – und auch die Nägel in den Balken schlug. Dabei war ich natürlich ganz auf Römer getrimmt.« Während er vorgibt, in der Bibel zu lesen, hat er einen Traum, in dem er als römischer Soldat auftritt und Christus mit einer Peitsche antreibt. Kubrick gestaltet diese Szene zu den schweren Klängen von Rimskij-Korsakov im typischen Hollywood-Stil – er bedient sich all dessen, was es schon gibt. Bibelverfilmungen waren vor allem in den fünfziger Jahren pompöses amerikanisches Terrain. Indem er angeblich mit Hingabe in der Bibel liest, gewinnt er das Vertrauen des Gefängnispfarrers. Dieser ist – nach Kubricks eigenen Worten – der einzig anständige Mensch in der filmischen Dramaturgie, denn während des folgenden Gespräches über jenes neue Konditionierungsprogramm meldet er seine ethischen Bedenken an: »Es ist eben die Frage, macht diese Technik den Menschen


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