- 333 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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zwischen Alex und seinen Droogs ist wiederum jener Konflikt zwischen Bürgerlichkeit und dem chaotisch dionysischen Potential von Alex. Die Droogs setzen ihn ab, Georgie ernennt sich zum neuen »General.« Alex ist für einen kurzen Moment seiner Autorität durch die Mehrheit beraubt und befindet sich im Konflikt zwischen Unterwerfung und Aufbegehren. Er ist »äußerlich ganz ruhig«, aber in ihm »brodelte es.« Doch die »allerherrlichste Musik« weist ihm den Weg. Aus einem Fenster hört er Beethovens Neunte, seine Inspirationsquelle für Gewalt und Brutalität. Die Musik ruft in ihm plötzlich den unberechenbaren und spontanen Drang hervor, Georgie und Dim anzugreifen. Beethoven wird wiederum zum Spiegel von Alex’ dionysischem Lebensprinzip, nach dem er Vernunft und rationales Denken – aufklärerische Ideale – als nutzlos hinstellt und an ihre Stelle die Inspiration und Spontaneität des spätromantischen Ästhetikers setzt: »Aber dann kam die Erleuchtung, und plötzlich begriff ich, daß das Denken nur ’was für Bekloppte ist und daß Leute mit Grips sowas wie Inspirationen haben oder was Smokey ihnen eingibt. Die allerherrlichste Musik kam mir zu Hilfe, [. . . ] und da checkte ich genau, was zu tun war!« Noch einmal gestaltet Kubrick Alex’ Gewalttat zu einer ästhetischen Performance. Nelson bezeichnet ihn auch als »Aktionskünstler«, der die Körperaktion als Selbstdarstellung inszeniert.43
43 Nelson 1982, S. 135.
Durch die Zeitlupe wirkt Alex mit seinem Stock wiederum so motorisch wie grazil in seinen Bewegungen, als er Georgie und Dim mit Fußtritten und Stockschlägen in den See prügelt. Rossinis unbeschwerte Ouvertüre wird hier zum einen zum wirkungsanalytischen Kontrapunkt: die Zeitlupe wirkt der doppelt so schnellen Rhythmik der Ouvertüre entgegen, wobei Kubrick der unbeschwerten Melodik Rossinis Alex’ Gewalttaten gegenüberstellt. Hierdurch entsteht eine groteske Wirkung. Zum anderen ist Rossinis Diebische Elster funktional gesehen jedoch eine affirmative Paraphrasierung, denn sie steht stellvertretend für Alex’ wiedergewonnene Autorität, die seiner Freude an Spontaneität und der ästhetischen Augenblickserfahrung entspringt. Der Walzertakt der Ouvertüre erinnert an Kubricks Affinität zur Zahl drei: Alex’ »unheilige« Trinität von Auge (Diabolisches), Eros und Thanatos, die er in dieser Szene wieder zur Autorität über bürgerliche Ratio – seine Droogs – erhebt. Rossinis Ouvertüre wird dadurch zu einem ästhetischen »Tanz der Gewalt«, ähnlich wie Kellys Singin’ in the Rain. Kubrick nähert sich hier erneut dem mickey-mousing an, indem er Alex’ triumphierenden Sprung in die Luft mit dem Tutti des Orchesters zusammenführt. Auf diese Weise demonstriert er ebenso eine symmetrische Verbindung zu 2001, denn die aus der Untersicht aufgenommene Zeitlupeneinstellung von Alex’ Sprung erinnert an den mörderischen Schlag des Affen in 2001, der zu den mächtigen Klängen von Strauss’ Also sprach Zarathustra aus dem Knochen zunächst ein Instrument, dann eine Waffe macht. Auch Alex kennt nur den Gebrauch der Waffe. Damit leistet Kubrick einen Kommentar zur Dialektik der Aufklärung: die Ratio (die Intelligenz des Affen) führt unweigerlich zu Herrschaftsansprüchen, deren Durchsetzung zu Gewalt (der Affe benutzt den Knochen als Waffe). Alex, der sich nur noch mit der Waffe verteidigt, verkörpert somit auch die Negation aufklärerischer Ideale Freiheit, Gleichheit etc., da diese sich aus der Konsequenz der Gewalt aus rationalen Herrschaftsansprüchen heraus selbst Lügen strafen. Kubrick bedient sich hier ebenso seiner Farbsymbolik: während Weiß für die Instanzen Gesetz und Macht steht,

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