- 332 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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gepreßt, die eindeutig der Ordnung der Gesellschaft entspricht. Der regelmäßige Marschrhythmus des künstlichen »Tenors« liegt jenseits jeden Chaos, das Kubrick mit der Person des Alex assoziiert.

Alex’ anschließende Orgie mit den beiden Mädchen dreht Kubrick im extremen Zeitraffer. Die beschleunigte synthetische Fassung von Rossinis Wilhelm Tell-Ouvertüre paraphrasiert das Geschehen auf komödiantische Art und Weise, die an den typisch überdrehten Slapstick-Effekt erinnert. Kubrick wendet hier durch den extremen Zeitraffer und die rasante Musikfassung die Technik des mickey-mousing an. Carlos gleicht die Synthesizer-Fassung der Bildgeschwindigkeit im Rhythmus an und imitiert damit die Handlung. Auch Musik- und Bildakzente stimmen überein, was auf Motte-Habers Begriff des »Balletts der Objekte« hinweist. Kubricks Fabel rechtfertigt diese Technik: zwar stellt er in dieser Szene entgegen seinen Gewohnheiten Sexualität dar, sie wirkt jedoch banal und leblos durch den Zeitraffer und Rossinis synthetischen Sound. Damit verneint der Regisseur eine »normale Sexualität«, was wiederum den moralischen Normen der von ihm parodierten bürgerlichen Gesellschaft entspricht. Alex’ Sex-Orgie mit den Mädchen ist eine Karikatur des immer Gleichen, Abbild eines substanzlos gewordenen Zeitvertreibs.41

41 Kuchenbuch 1995, S. 211.
Zugleich funktionalisiert er eben jene Vorurteile gegen die Technik des mickey-mousing, die Banalität, indem er dadurch eine Geschlechterbeziehung banalisiert und jegliche Normalität sowohl in dramaturgischer als auch filmtechnischer Sicht negiert: »Meiner Ansicht nach ließ sich damit eine Satire auf die traditionelle Zeitlupe drehen, mit der diese Art von Szene normalerweise feierlicher gestaltet und zu ›Kunst‹ gemacht wird. Die Ouvertüre zu Wilhelm Tell schien mir ebenfalls ein passender musikalischer Scherz auf Kosten der üblichen Bach-Begleitung zu sein.«42
42 Stanley Kubrick 1972 im Gespräch mit Michel Ciment, zit. n. Ciment 1980, S. 153.
Der »musikalische Scherz« ruft auch auf der visuellen Ebene durch das mickey-mousing jenen gewünschten komödiantischen Effekt hervor.

In den Szenen 11 bis 14 baut Kubrick den dramaturgischen Konflikt auf, der letztlich zum Fall des Protagonisten Alex führt. Obwohl er und seine Droogs anfangs der Doppelgängermotivik unterliegen, stellt sich hier ein entscheidender Unterschied zwischen ihnen und Alex heraus. Seine Kumpanen Pete, Georgie und Dim erkennen die Autorität von Alex nicht mehr an, da er in ihren Augen bei seinem Spaß an selbstinszenierten Horrorshows den Profit aus den Augen verliert und nicht an die »wirklichen Mäuse« herankommen will. Damit verraten sie trotz der Doppelgängermotivik und der selbst-inszenierten gewalttätigen Performances ihre heimliche Affinität zur bürgerlichen Maxime der Werteansammlung. Alex hingegen reagiert auf eine solch profane Motivation gelangweilt: »Und was willst du tun mit den vielen [. . . ] Mäusen? Hast du nicht alles, was du willst? Und wenn du ein Auto brauchst, dann klaust du’s dir einfach! Und wenn du Pretty Polly brauchst, nimm’ sie dir!« Kubrick weist hier wiederholt darauf hin, daß Alex’ Taten nicht aus sozialer Not oder krankhaft sexuellem Verlangen heraus motiviert sind, sondern ausschließlich aus der ekstatischen Augenblickserfahrung. Er ist der individuelle, spontane und emotionale Held, der einen ästhetischen Genuß an Gewalt und Mord empfindet. Als solcher ist er nicht nur ein Störenfried in der Gesellschaft, sondern bereits in der kleinen Hierarchie der Droogs. Der hier angedeutete Konflikt


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