ganzen Linie, was Kubrick auch mit dem antiken Wandmuster im Treppenhaus
illustriert. Wie in Tod in Venedig entsteht auch hier eine Diskrepanz zwischen
dem apollonischen und dem dionysischen Prinzip. Kubrick setzt jedoch andere
Akzente in ihrer Verwirklichung, denn die Gesellschaft und die Umwelt werden
als absolut steril hingestellt (apollonisch). Ihnen steht Alex’ anarchistische,
ästhetisch-perverse Lebenseinstellung gegenüber. Er liebt das Schöne und verehrt die
Musik Beethovens, die ihm als Inspirationsquelle für seine perversen Träume dient. Nach
diesem »wunderbaren Abend« hört er sich die Neunte vom »göttlichen Ludwig
van« an (man beachte die phonetische Identität mit dem englischen »fun« =
Spaß). Hier wird wiederum die Ambivalenz der Sympathie gegenüber Alex
offenbar: einerseits vergewaltigt und mordet er, andererseits zeigt er sich als
intelligenter Musikkenner, was jedoch gleich wieder relativiert wird, denn zu
den Klängen des beschwingten zweiten Satzes sieht Alex’ in seinem Zimmer
»liebliche Bilder« von Hinrichtungen und Bombendetonationen. Er schließt sich und
seine Vorliebe für die Kunst, das Schöne, in seinem safeartigen Zimmer ein und
läßt die Banalität der Welt vor der Tür, beispielsweise seine Mutter, die ihn
zu wecken versucht. Auch hier bedient Kubrick sich wieder eines Klischees:
schwache Eltern und später ein verständnisloser Bewährungshelfer. Doch die
Darstellung dieser Figuren verharrt in der Karikatur. Alex’ Eltern und sein
Sozialarbeiter sind nichts weiter als Witzfiguren – sehr anschaulich in der modischen
Aufmachung der Mutter dargestellt – über die sich Alex lustig macht. Sein
Hang zu Gewalttaten wird somit wiederum nicht durch seine soziale Herkunft
begründet.
Kubricks Anleihen aus dem 18. Jahrhundert illustrieren sich auch in der folgenden Szene in der äußerlichen Aufmachung von Alex: In einen Gehrock des 18. Jahrhunderts gekleidet, betritt er den Plattenshop. Hier spiegelt sich auch Kubricks Hang zur Symmetrie in seinem Gesamtwerk, denn Lord Bullingdon betritt in einer ähnlichen Aufmachung – Kostüm und Stock – den Club in Barry Lyndon. Als Alex auf die zwei Mädchen trifft, wird die Zahl drei und ihr geometrisches Äquivalent wiederum in der Personenkonstellation transparent. Erneut »entweiht« Kubrick jene ursprünglich göttliche Trinität durch den Bezug zur Sexualität, indem Alex die beiden Mädchen zu einer Sex-Orgie auf sein Zimmer einlädt. Die Szene im Plattenladen unterlegt Kubrick mit einer verkürzten Synthesizer-Fassung des Marsches aus dem vierten Satz von Beethovens neunter Sinfonie. Der synthetische Klang des Instruments markiert das motorisch Mechanische einer Gesellschaft, in der die Figuren in die Nähe von Marionetten gerückt werden. Alex erfüllt jedoch in dieser dramaturgischen Phase noch nicht diese Eigenschaften. Er ist der dionysische Typ, der seinen Instinkten als Inspirationsquelle folgt. Kubrick verdeutlicht seine Außenseiterstellung besonders durch die rückwärtsgerichtete Kamerabewegung, als Alex durch den scheinbar kreisförmig angelegten Plattenladen geht. Diese Kamerabewegung offenbart ein weiteres Mal Kubricks Symmetrie, denn er verwendet sie in vielen seiner Filme. Toffetti hat für sie den Ausdruck »Kubrickscher Korridor« geprägt. Die Bewegung verweist auf das Eindringen eines Individuums in einen normativ geregelten Gesellschaftsraum, den es verändern wird – und dies meist in Form des Aufbegehrens gegen die Ordnung des Lebens. Der für Alex so göttliche »Ludwig van« – Inspirationsquelle für seine unberechenbare unkontrollierte Gewalt – wird in dieser sterilen Umgebung von Kubrick in eine Synthesizer-Schablone |