- 330 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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willen und gehorcht nur ihren eigenen Gesetzen.40
40 Kirchmann 1995, S. 154.
Kubrick vollzieht in dieser Szene die Zerstörung sämtlicher Funktionszuschreibungen einer idealistischen Kunst, der ars utile. Die Produktion und Rezeption von Kunst gewährleistet keinen Sinn mehr, außer die lustvolle Hingabe an die ästhetische Vorstellung, die er deutlich mit der Gewalt verbindet. Dementsprechend werden Mord und Vergewaltigung bei Kubrick zu einer ästhetischen Kunst. So stürzt er den Zuschauer in ein Wechselbad der Gefühle zwischen Abscheu und Faszination der ästhetischen Performance. Indem Kubrick Alex zum Protagonisten dieser Show macht, wird dieser zum Vertreter des ästhetischen Weltbildes, indem er die klassisch-bürgerliche Doktrin radikal ablehnt. Dies wurde bereits in der zweiten Szene des Films deutlich, in der Alex ohne jegliche Motivation auf den Bettler einschlägt und damit anarchistischen Handlungsprinzipien folgt. Alex ist der dionysische Typ, der sich ganz nach seinen Gefühlen richtet und keine Autorität anerkennt.

Carlos’ folgendes »Beethoviana«-Thema, eine synthetische Mischung aus Beethovens Neunter und Purcell, erklingt bei der Rückkehr der Droogs an ihren Zufluchtsort. Nach der Nacht der Horrorshow weist die Musik auf die gemischten Gefühle von Zufriedenheit und Hoffnungslosigkeit, denn die Droge wirkt nicht mehr. Hier erscheinen die Droogs zum ersten Mal so wie sie sind: kindgebliebene Jugendliche, die sich das Gefühl, in einer entstellten Welt zu existieren, nur durch Drogenkonsum sichern können. Doch die Welt bleibt für sie eine »Kind-Welt.« Dies zeigt sich besonders an Dim, der wie ein naiver Junge mit dem Milchkasten Lucy redet – kaum zu glauben, daß er vorher einige Männer krankenhausreif geschlagen hat. Die Droogs erscheinen hier wie »monsterhafte Säuglinge«, die sich mit Milch besaufen, eine Kindpsychologie in einem erwachsenen Körper.

In der nächsten Einstellung wird zum ersten Mal Alex’ Verhältnis zur klassischen Musik, genauer sein Beethoven-Kult und seine Liebe zum Schönen, offensichtlich. Ein religiöses Verhältnis: er bestraft den »gotteslästerlichen« Dim, der sich über die Sopranistin lustig macht und redet mit ihm in Art und Stil des 18. Jahrhunderts: »Paß er auf! Paß er gut auf, oh Dim, falls am Leben zu bleiben ihm gelegen ist!« Dims hoffnungsloser Rückzug geht einher mit Purcells Thema von der Beerdigung der Königin Mary, das die frostige Atmosphäre dieser künstlichen Welt wiederum zutage treten läßt. So verhält es sich auch auf Alex’ Heimweg: durch eine verlassene und unnatürliche Betonarchitektur schlendernd, pfeift er Carlos’ Beethoviana-Thema, das auf die naturwidrige Sterilität der gesamten Atmosphäre hindeutet. Kubrick taucht die Szene wiederum in ein kaltes blau-graues Licht. Bis zu diesem Punkt wurde noch nichts über Alex’ Leben aus dem dramaturgischen Verlauf bekannt, außer daß er Anführer einer Gang ist, die sich »ultra-brutale Vergnügungen« leistet. Damit bewirkt Kubrick nicht nur durch Alex’ Stimme aus dem off eine Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz, sondern auch durch die Position, aus der er Alex in der ersten Einstellung in den Film einführt und den Zuschauer anschließend mit dessen ästhetischer Performance konfrontiert. Dennoch bleiben Alex und seine Droogs dem Zuschauer zunächst fremd und distanziert. Ihre bösen Taten werden durch nichts erklärt. Bei den ersten Hinweisen auf Alex’ Herkunft verwendet Kubrick die typischen Klischees: Wohnsilogegend, ein von Müll übersätes Treppenhaus, ramponierte Fahrstuhltür – unpersönliche Sterilität auf der


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