- 329 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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irrelevant sind. Etwas anderes rückt besonders in dieser Szene in den Mittelpunkt: der Spaß und der ästhetische Genuß, den Gewalt, Mord und Vergewaltigung Alex bieten. Rossinis Diebische Elster paraphrasiert diesen Hang zur Freude an der Gewalt. Doch Kubrick assoziiert Alex’ Gewaltbereitschaft nicht nur mit dem Anschein des Planlosen und Zufälligen, sondern auch mit der Option des Schönen, der Ästhetik. Seine »ultra-brutale Horrorshow«, von der er mehrere Male spricht, inszeniert er zum ersten Mal im Hause des Schriftstellers Mr. Alexander. Auffällig ist die Namensverwandtschaft zwischen Alex und dem Schriftsteller. Kubricks Doppelgängermotivik wird hier transparent. Es ist die psychologische Polarität, die beide verbindet: auch Mr. Alexander unterwirft sich dem Beethoven-Kult wie Alex, wie sich später herausstellen wird, denn die Klingel seines Hauses läßt das Schicksalsmotiv der fünften Sinfonie ertönen. So werden die beiden als Doubles inszeniert, wobei der Schriftsteller hier zunächst noch den Gegenpart von Alex verkörpert, den erfolgreichen Schriftsteller, der sich ganz den gesellschaftlichen Regeln des Anstandes unterwirft. Diese Konstellation wird sich im Laufe der Dramaturgie ins Gegenteil umkehren.

Das Wort »Horrorshow« assoziiert bereits den Zusammenhang von Schrecken und ästhetischer Performance. Die Themen des Schauspiels sind auf mehrfache Weise präsent. Alex’ angeklebte Augenwimpern: er maskiert und verkleidet sich für den Überfall auf den Schriftsteller und seine Frau wie ein Schauspieler. Die Gewalttaten an dem am Boden liegenden Schriftsteller und die Vergewaltigung von Mrs. Alexander stilisiert Alex zum »ästhetischen Spektakel«, in dem er grazil wie ein Tänzer mit der einstudierten Motorik eines »Actors« im Takt von Gene Kellys Song seine Greueltaten ausführt. Kellys Song, der dem Schauspieler Malcolm McDowell am Set eher zufällig einfiel, wird von Kubrick von einem »Hollywood-Tanz im Regen« ins absolut Groteske verzerrt. Wie Gene Kelly mit dem Schirm auf der Straße tanzt Alex nun mit der Schere in der Hand durch den Raum, mit der er das Kleid der Frau aufschlitzt wie in einer Jack-the-Ripper-Parodie, wobei besonders die Verse »The sun’s in my heart/and I’m ready for love« das Geschehen zynisch kontrapunktieren. Alex’ barbarische Roheit wird in musikalische Grazie überführt – der Zuschauer stößt erneut an die Grenze seiner Rezeptionshaltung. Die Ambivalenz zwischen Gut und Böse ist dennoch offensichtlich. Mr. Alexander repräsentiert in dieser Szene den Kinozuschauer. Wie er verschließt der Zuschauer seine Augen vor dem Grauen dieser Szene nicht, weil er sich andererseits der Faszination der ästhetischen Performance nicht entziehen kann: Kubrick setzt bewußt die Ästhetik vor die Ethik. Mr. Alexander wird zum »gefesselten Voyeur«. Damit negiert Kubrick jene aufklärerische Botschaft der Triebsublimation durch das Auge, denn statt dem Anblick der Greueltaten an seiner Frau auszuweichen, sieht er mit groß aufgerissenen Augen zu. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch die subjektive Perspektive der Kamera, vor der Alex’ sich niederbeugt und dem Schriftsteller »Viel Spaß« – im Original übrigens »Viddy well« [»Gutes Zusehen«] – wünscht. Da Mr. Alexander in diesem Augenblick den Zuschauer verkörpert, adressiert Alex seine zynischen Wünsche direkt an ihn. So wird der Zuschauer selbst zum Voyeur.

In dieser Szene wird ebenso Kubricks Einstellung zur Kunst deutlich, die er auch seinem Protagonisten Alex auferlegt. Die Kunst läßt sich nicht als Instrument zur moralischen Verbesserung heranziehen, sie existiert ausschließlich um ihrer Eigendynamik


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