- 33 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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repräsentiert nicht nur sich selbst, sondern zugleich auch die der filmischen Welt zugehörige Erscheinung. Dies setzt Lissa mit Realismusgewinn der Musik gleich, was – wie bereits geschildert – erheblich relativiert werden muß. In dem Gegensatz zwischen der Perzeption von Auge und Ohr liegt sogleich auch die Entsprechung im Film. Das Auge nimmt nur Ausschnitte der Umgebung wahr, so bedient sich auch der Film als Ganzes gesehen nicht einer kontinuierlichen Form der Darstellung, sondern bietet nur eine Auswahl gewisser Fragmente. Die Musik dagegen fließt in einem einheitlichen Strom über die Sprünge des Bildes hinweg. Doch im Vergleich von Kontinuität und Einheit des musikalischen Ablaufes auf den Sequenzabschnitten des Films liegt das Problem genau umgekehrt. Hier zieht sich die Fabel einheitlich durch alle Sequenzen, die diese zu einer Ganzheit verbinden, während die Musik in dieser Beziehung keine kontinuierliche und homogene Form hat, da sie beispielsweise durch Dialog unterbrochen wird. Beide Sphären sind also kontinuierlich und nichtkontinuierlich zugleich. Diese Gegensätzlichkeit gestattet es diesen beiden Faktoren, sich gegenseitig zu unterstützen, die Nichtkontinuität des einen durch Kontinuität des anderen auszugleichen.13
13 Lissa 1965, S. 69–70.

Ein weiterer Gegensatz besteht in der Entwicklung der beiden Kunstarten Film und Musik. Während die Musik eine jahrhundertelange Entwicklungsgeschichte nachweisen kann, so liegt die »Geburtsstunde« des Films im Jahre 1895. Dennoch lösen sich die geschilderten Gegensätze in der Synthese von Film und Musik auf. Der Tonfilm ist eine synthetische Kunst, zum einen in dem Sinne, daß er Elemente verschiedener Künste wie der Musik, der Oper und der Malerei verbindet und sie in neue Beziehung miteinander setzt, zum anderen, daß er in einer Einheit ihre Gegensätzlichkeiten überwindet. So ist es ein grundlegendes Wesen von Musik, daß sie dem Hörenden keine absoluten konkreten Inhalte vermittelt, daß sie keine »darstellende Kunst« wie die visuelle Schicht des Filmes ist. Musik als auditive Erscheinung unterstreicht die Bewegung in den visuellen Schichten, denn visuelle Erscheinungen laufen meist nicht ohne akustische Erscheinungen ab. Im Moment der Bewegung treffen sich die dreidimensionale Sehwelt (ausgestattet mit den Koordinaten Länge, Breite und Höhe) und die vierdimensionale Hörwelt (Länge, Breite, Höhe und Zeit). Da Bewegung nur in der Zeit verlaufen kann, erhält die Sehwelt gleichfalls ihre vierte Dimension.14

14 Schneider 1986, S. 71.
Bewegungen im Filmbild sind daher ein guter Auslöser für den Einsatz von Musik im Bild, da diese als akustisches Phänomen ebenfalls der Entfaltung in der Zeit bedarf – allgemein als Zeitkunst bezeichnet – um in sukzessiver Präsentation ihrer Parameter ihren Sinn zu reflektieren. Damit wird die Bewegung zum grundlegenden Element der Zuordnung von Bild und Musik.

2.2.  Möglichkeiten der formalen Zuordnung

Schneider sieht in jedem Versuch, die Zuordnung von Bild und Musik kategorisch zu systematisieren, eine Anstrengung, die zum Scheitern verurteilt ist, da sowohl die auditive als auch die visuelle Schicht aus mehreren Elementen besteht, die auf verschiedene Arten zugeordnet werden können. Dieses Problem der verschiedenen


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