- 32 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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»Spannungsgeladene Stille. Überraschenderweise wird diese Wirkung verstärkt, wenn die Musik im Augenblick höchster Spannung plötzlich aussetzt und uns mit den stummen Bildern allein läßt. Das ist ein Kunstgriff, der im Zirkus verwendet wird, um sensationelle Darbietungen zu voller Geltung zu bringen. Man sollte erwarten, daß die verlassenen Bilder wirkungslos bleiben; was aber tatsächlich geschieht, ist, daß sie uns stärker fesseln als die ihnen vorangehenden, musikalisch untermalten Aufnahmen.«10
10 Kracauer 1996, S. 188.

Lissa definiert die Stille als eine Art »Bewegungslosigkeit der auditiven Schicht«, die der Entrealisierung dient. Kinsky-Weinfurter hält diese Definition von Stille für zu allgemein, denn Filmmusik als ein Element der auditiven Schicht sei schließlich immer ein irreales Element, es sei denn, sie tritt im Film als aktuelle Musik auf.11

11 Gottfried Kinsky-Weinfurter: Filmmusik als Instrument staatlicher Propaganda. Der Kultur- und Industriefilm im Dritten Reich und nach 1945. München 1993, S. 193.
Dennoch liefert die Filmgeschichte viele Beispiele für »Entrealisierung« durch Ausblenden oder starke Reduktion der Musik. Sie ist ein selbständiger Inhaltsträger. Sie kann beispielsweise der Ausdruck größter Konzentration der Handlung sein und erfüllt hier ebenfalls das Moment der Spannung und ist nicht nur Stille im Sinne eines fehlenden Geräusches. In Hinblick auf die restlichen Elemente der auditiven Schicht erfüllt Stille auch die Rolle der »Interpunktion«, denn sie trennt die einzelnen Phasen der Tonbearbeitung voneinander.

Zum Zusammenwirken der auditiven und der visuellen Wirkung meint Lissa, daß die Wirkung der auditiven Sphäre dort beginnt, wo das Wirken der visuellen Sphäre aufhört. Darüber hinaus hat sich durch die Praxis der Filmgeschichte ergeben, daß sich durch das Zusammenwirken beider eine neue dramaturgische Qualität ergibt, die keines der beiden Elemente allein dem Film geben könnte. Die Wirkung der beiden Schichten ist jedoch abhängig davon, welche Elemente der Schichten miteinander verbunden werden. Lissa erwähnt hier die Einheit von Bild und Geräuschen, ferner die Einheit von Rede und Bildern sowie die Einheit von Bildern und Musik. Adorno und Eisler versuchten, gestützt auf Eisenstein, die Einheit von visueller und auditiver Ebene in den Analogien der Empfindungsmomente zu finden: Licht, Klangfarbe und Art der Bewegung.12

12 Adorno/Eisler 1976, S. 67.
Für Lissa hingegen kommt eine Einheit lediglich zustande, wenn die Strukturen von visueller und auditiver Ebene einander ähneln. In diesem Falle stimmt sie einer Einheit zu. Doch beschränkt sich ihrer Meinung nach die Einheit nicht nur auf eine strukturelle Analogie, besonders nach der Zeit des Stummfilms kamen der Musik weitaus wichtigere Aufgaben zu. Insgesamt bezeichnet sie die Geschlossenheit von Auditivem und Visuellem jedoch als »antithetische Einheit«, da hier zwei in sich gegensätzliche autonome Künste miteinander verbunden werden. Bei der Verbindung von Bild und autonomer Musik ist diese gegensätzliche Verbindung noch stärker ausgeprägt. Diese Gegensätzlichkeit, die sich in den meisten Fällen jedoch in gegenseitige Unterstützung auflöst, begründet Lissa durch folgende Punkte:

Das Bild ist im Film die fotografische Rekonstruktion von Gestalten und Gegenständen der Wirklichkeit. Die Musik, die im Kinosaal ertönt, ist nicht ein Bild des Klanges, sondern der Klang selbst. Doch in Verbindung mit dem Bild ändert sich ihre »Daseinsform«, indem sie konkrete Inhalte des Filmes unterstreicht, d.h. sie


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