- 328 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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des Auges: es wird zum Ort des Bösen und der Perversion. Was Kubrick bereits in seinem Filmplakat zusammengefaßt hat, wird hier zum ersten Mal präsentiert: Auge (Alex’ Blick) – Sexualität (Frauenakte) – Gewalt (»Ultra-Brutale«). Das Auge hat bei Kubrick nicht länger wie in 2001 eine göttliche Dimension. Es wird eine vollkommen unheilige Trinität von Auge, Sexualität und Gewalt errichtet, das Sehen verbindet er entsprechend dem romantischen Zeichenkomplex ausschließlich mit Gewalt und Tod. Damit erfüllt er auch zum ersten Mal jene konstante Motivik von Erotik und Tod. Hier wird ebenso Peripetie der Sympathie offenbar, die sich durch den gesamten Film zieht. Der impertinent aufdringliche Blick des Helden und sein Gerede über »ein wenig Ultra-Brutale« steht der subjektiven Identifikation mit ihm durch die Erzählperspektive gegenüber. Letztere befreit Kubrick auch von jeder Begründung für die eigentümliche Sprache von Alex. Es ist das von Burgess entwickelte »Nadsat«, eine Kunstsprache, die sich aus Cockney English, Russisch und Jiddisch zusammensetzt37
37 Jansen 1984, S. 139.
– eine Sprache, die der Atmosphäre wie die Einrichtung der Bar etwas Künstliches verleiht (die Musik unterstreicht dies). Sie ist ebenso eine Anspielung Kubricks auf die Idee der Jugendsubkulturen der sechziger und siebziger Jahre ist. Bourguignon sieht in ihr den Spiegel der Unvernunft von Alex und seinen Droogs.38
38 Thomas Bourguignon: »Orange mécanique. La très horrifique et très pitoyable histoire d’Alex l’ultra-violent.« Positif 379 (1992) 98.
Purcells Musik zur Beerdigung der Königin Mary unterstreicht die frostig-feierliche Atmosphäre der Korova-Milchbar. Sie begleitet den Prolog in der Bar, wo die Personen ebenso versteinert sind wie die Statuen der nackten Frauen, die zu Apparaturen dienstbar gemacht wurden. Der Moog-Synthesizer paraphrasiert Kubricks inszenierte Kälte einer scheinbar futuristischen Welt ebenso mit extrem harten Lichtkontrasten. Leblosigkeit, Hoffnungslosigkeit – eben ein Hauch von Tod und Bestattung – charakterisiert diese Szene, bevor Alex und seine Droogs die Milch trinken und damit ins »Paradies der Ultra-Gewalt« eintreten.

In der zweiten Szene wird der Zuschauer zum ersten Mal mit Alex’ Gewaltbereitschaft konfrontiert, die er hier zunächst mit seinem Ekel vor dem Häßlichen und Niedrigen des Alltags erklärt: »Einen solchen alten, dreckigen, stinkenden Suffkopf zu sehen, ging mir schon immer gegen den Strich. [. . . ] Diese Typen waren mir schon immer eklig.« Diese von Alex so empfundene ekelerregend banale Umwelt dokumentiert Kubrick auch mit seinem Farbenspiel. Er taucht die Szene in ein unnatürlich blau-graues Licht. Dagegen setzt er die Droogs stets in weißen Anzügen bekleidet dagegen. Diese Farbdialektik hat er bereits in 2001 verwirklicht. Weiß wird zur Farbe des Gesetzes, der Ordnung und der Macht.39

39 Bourguignon 1992, S. 100.
In dieser Welt »ohne Ordnung und Gesetz«, wie der Penner beklagt, verkörpern die Droogs eine bestimmte Macht, letztlich den Sieg der Anarchie, denn Alex folgt seinem eigenen »Rechtsempfinden«, als er mit seinem Stock auf den Clochard einprügelt.

Die nächsten Gewalttaten ergeben sich ebenso eher zufällig als geplant. Wie die Droogs durch Zufall auf den Clochard stoßen, so geraten sie auch zufällig in die Schlägerei mit der Billyboy-Bande. Hiermit kommentiert Kubrick ein weiteres Mal, daß die gängigen Motivationsmuster böser Taten für die Figur Alex vollkommen


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