- 327 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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an ihren Lippen abliest, daß sie ihn ausschalten wollen. Er tötet die Astronauten und die Reservemannschaft. Sein tödlicher Blick wird zum tödlichen Augenblick. Doch Kubrick vollzieht sogleich eine Hinwendung HALs zum Menschlichen, als er den gegen seinen Willen ins Raumschiff gelangten letzten Astronauten Bowman mit weinerlicher Stimme anfleht, ihn – Gott – leben zu lassen bis Bowman nacheinander jeden Schaltkreis stillegt – Kubricks Absage an die Idee des Göttlichen und der vergöttlichten Ratio. Der Film endet mit einem Schlußbild, in dem das Sternenkindembryo – Bowman als Wiedergeborener – mit staunend aufgerissenen Augen die Reise zur Erde antritt.

Der »Augen-Blick« setzt sich direkt in der ersten Sequenz des Films Uhrwerk Orange fort. Auch die göttliche Trinität spielt hier wiederum eine Rolle, ist jedoch sinnentleert. Ciment weist darauf hin, daß die Handlung des Films wie in einer Art kreisförmigen Tryptichon aufgebaut ist, in der sich die Episoden mit dem Stadtstreicher, dem Schriftsteller Alex zu Hause und die Sexualgewalten wie einem Spiegel gegenüberstehen jeweils vor und nach seiner Ludovico-Behandlung. Der Handlungsablauf bekommt somit etwas Schematisches und Artifizielles. Kubricks Hang zur Symmetrie, die letztlich an den narrativen Zusammenhang gebunden ist, wird hier deutlich. Alle Bewegungen kehren zu ihrem Ausgangspunkt zurück und konfrontieren den Helden Alex immer wieder mit ähnlichen Situationen und Personenkonstellationen. Somit ergibt sich eine dreieckig angelegte Handlung: Alex als Täter/Alex im Gefängnis/Alex wieder in Freiheit. Diese triptychonähnliche Anlage deutet bereits das dreieckig angelegte Filmplakat an, auf dem die Beziehung zwischen Sehen, Sexualität und dem Tod dargestellt wird.

So wird gleich in der ersten Sequenz Alex’ geschminktes Auge gezeigt, das den Zuschauer impertinent anstarrt und mit seinen künstlichen Augenwimpern den vorher angedeuteten göttlichen Strahlenkranz assoziiert. Die verstörende Wirkung, die vom Filmanfang ausgeht, verdankt sich der Undefiniertheit dieser mehr phantomhaften Erscheinung, die den Zuschauer so herausfordernd-spöttisch ansieht. Kubrick zwingt dem Zuschauer damit eine Nähe auf, die man lieber vermeiden würde. Es erfolgt eine Kamerafahrt zurück, die den Zuschauer jedoch nicht in die »Realität« irgendeiner Kinogeschichte entläßt, sondern in das hochstilisierte Dekor der Milchbar führt, die mit bekannten Symbolen von Sexualität und Gewalt dekoriert ist: Frauenglasfaserakte als Tische und Guards in Abwehrhaltung. Die Puppen der Korova-Milchbar assoziieren auch gleich zu Beginn Kubricks Menschenbild, nach dem der Mensch innerhalb einer sinnentleerten Gesellschaft nur noch ein Art Spielzeug ist, wie Ciment es ausdrückt. Mit der Kamerafahrt werden Alex’ Droogs erfaßt: alle in weiße Kampfanzüge gekleidet, deutet Kubrick erstmals sein Doppelgängermotiv an. Auch wenn der Zuschauer dies am Anfang noch nicht deuten kann, so wird zumindest anhand der gleichen äußerlichen Aufmachung der Droogs deutlich, daß sie sich in den Facetten ihrer Persönlichkeiten zumindest Ähnlichkeiten ergeben, die einer ähnlichen Gesinnung entspringen. Wie Kubrick den Zuschauer zur fiktiven Nähe mit Alex zwingt, so nötigt er ihn nun auch zur Identifikation, indem er die narrative Erzählung in die Hände von Alex legt und ihn aus dem off zum Zuschauer sprechen läßt: »Das hier bin ich: Alex. Und meine drei Droogs: Pete, Georgie und Dim. Wir hockten in der Korova-Milchbar und überlegten uns, was wir mit diesem Abend anfangen sollten. In der Korova-Milchbar konnte man Milch-plus kriegen. [. . . ] Das heizt einen an und ist genau richtig, wenn man Bock hat auf ein wenig Ultra-Brutale.« Damit erfüllt Kubrick zum ersten Mal den Zeichenkomplex


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