Die Exposition erstreckt sich von Szene 1 bis
10.33
Sie stellt Alex als Täter vor. Kubrick führt seinen Helden auf sehr drastische Weise in die
Filmhandlung ein. Im Vorspann zitiert Kubrick zunächst Walter Carlos’ verzerrte
Synthesizer-Fassung von Purcells Music on the Death of Queen Mary. Auch wenn man
das Zitat nicht erkennt, so bewirken die anfänglichen künstlichen Glockenschläge
des Synthesizers und die konstanten Mollkadenzen auf verschiedenen Stufen
bereits eine atmosphärische Entfremdung, die nicht zuletzt durch den verzerrt
synthetischen Klang hervorgerufen wird. Die Schriftzüge des Vorspanns, der vor
monochrom blauem und rotem Hintergrund gesetzt wird, erscheinen bereits exakt im
Takt der Musik. Auf einer weiteren Eins wird der Zuschauer plötzlich ganz
unvermittelt mit Alex’ durchdringendem Blick konfrontiert, dessen rechtes Auge
durch künstliche Augenwimpern vergrößert wird. Kubrick knüpft damit an eine
Tradition an, die er bereits in seinem vorherigen Film 2001 – Odyssee im Weltraum
verwirklichte.
Das Auge repräsentiert spätestens seit Amos Comenius’ Schrift Orbis sensualium pictus
(1658) die göttliche Vorsehung, die Idee des allsehenden Gottes. Es wird stets nur von
einem Auge gesprochen. Alles ist rechts, was das Gute bedeuten soll. Das Symbol
des göttlichen Auges wird in der Geschichte oft von einem Strahlenkranz umgeben,
das von einem Dreieck umschlossen wird – ein Symbol der göttlichen Trinität. Die
Aufklärung zerstört im 18. Jahrhundert die Transzendenz des göttlichen Auges. Es wird
säkularisiert: an die Stelle der göttlichen Allmacht tritt nun die vergöttlichte Ratio.
Das Auge ist Symbol des scharf sichtenden Verstandes, der alles durchdringenden
Vernunft.34
34 Kay Kirchmann: »Der tödliche Augen-Blick in den Filmen Stanley Kubricks.« In: Bernd
Vogelsang/Lorenz Engell (Hrsg.): Der tödliche Augenblick. Wie Hören und Sehen vergeht. Köln
1989, S. 167–168.
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Der Kampf der Aufklärung um eine Entmythologisierung zeigt sich als ein
Kampf um verschiedene »Blickstrategien«. Auch im Medienzeitalter des 20.
Jahrhundert gilt das Auge immer noch und mehr denn je als das Erkenntnisorgan,
was sich schnell auf die Kamerakunst von Film und Fernsehen übertragen
hat.35
Parallel zur rationalistischen Aufwertung des Auges im 18. Jahrhundert findet jedoch ein
anderer Vorgang statt: seit jeher wurde das Auge auch mit dem Sexualtrieb assoziiert. Im
Zeitalter der Aufklärung wird es nun auf umgekehrten Wege zu einem Symbol für
Triebsublimation, Verzicht. Damit wird der Grundstein zum modernen Typus des Voyeurs
gelegt. In der Romantik kehren Künstler zurück zur Religion. Doch die Aufklärung hat
dem Auge die Dimension des göttlichen Weltzusammenhangs genommen. Was dem
Romantiker zurückbleibt, ist das Schreckensbild einer Welt, die ihren Bezugspunkt
verloren hat. Die Folge: das Auge steht fortan im Dienst des Bösen und Satanischen und
wird zum Ort jener Kräfte, die die Aufklärung zu verdrängen suchte – Sexualität,
Wahninn, Gewalt und Tod. Es wird wieder zum »Trieborgan« und steht für die dunklen
Seiten der Sexualität: Vergewaltigung und Perversion. Auge und Tod werden zu einer
sinnbildhaften Einheit. Im Sinne einer »negativen Dialektik« werden nun alle positiven
Eigenschaften, die die Aufklärung des Auge zuschrieb, entwertet und negativ
besetzt.36
36 Kirchmann 1989, S. 170.
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Kubrick greift in seinen Filmen auf all diese historischen Varianten des Zeichenkomplex
»Auge/Blick« zurück. Bereits in 2001 – Odyssee im Weltraum findet man den einäugigen Gott
in Gestalt des Bordcomputers HAL als perfektioniertes Auge Gottes. Er weiß alles und sieht
alles. Religion und Aufklärung werden hier vereint. Damit verbindet Kubrick jedoch die
Schreckensvision: HAL reagiert wie ein strafender Gott, als er den Astronauten
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