- 326 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Die Exposition erstreckt sich von Szene 1 bis 10.33
33 Vgl. Anhang C.4
Sie stellt Alex als Täter vor. Kubrick führt seinen Helden auf sehr drastische Weise in die Filmhandlung ein. Im Vorspann zitiert Kubrick zunächst Walter Carlos’ verzerrte Synthesizer-Fassung von Purcells Music on the Death of Queen Mary. Auch wenn man das Zitat nicht erkennt, so bewirken die anfänglichen künstlichen Glockenschläge des Synthesizers und die konstanten Mollkadenzen auf verschiedenen Stufen bereits eine atmosphärische Entfremdung, die nicht zuletzt durch den verzerrt synthetischen Klang hervorgerufen wird. Die Schriftzüge des Vorspanns, der vor monochrom blauem und rotem Hintergrund gesetzt wird, erscheinen bereits exakt im Takt der Musik. Auf einer weiteren Eins wird der Zuschauer plötzlich ganz unvermittelt mit Alex’ durchdringendem Blick konfrontiert, dessen rechtes Auge durch künstliche Augenwimpern vergrößert wird. Kubrick knüpft damit an eine Tradition an, die er bereits in seinem vorherigen Film 2001 – Odyssee im Weltraum verwirklichte.

Das Auge repräsentiert spätestens seit Amos Comenius’ Schrift Orbis sensualium pictus (1658) die göttliche Vorsehung, die Idee des allsehenden Gottes. Es wird stets nur von einem Auge gesprochen. Alles ist rechts, was das Gute bedeuten soll. Das Symbol des göttlichen Auges wird in der Geschichte oft von einem Strahlenkranz umgeben, das von einem Dreieck umschlossen wird – ein Symbol der göttlichen Trinität. Die Aufklärung zerstört im 18. Jahrhundert die Transzendenz des göttlichen Auges. Es wird säkularisiert: an die Stelle der göttlichen Allmacht tritt nun die vergöttlichte Ratio. Das Auge ist Symbol des scharf sichtenden Verstandes, der alles durchdringenden Vernunft.34

34 Kay Kirchmann: »Der tödliche Augen-Blick in den Filmen Stanley Kubricks.« In: Bernd Vogelsang/Lorenz Engell (Hrsg.): Der tödliche Augenblick. Wie Hören und Sehen vergeht. Köln 1989, S. 167–168.
Der Kampf der Aufklärung um eine Entmythologisierung zeigt sich als ein Kampf um verschiedene »Blickstrategien«. Auch im Medienzeitalter des 20. Jahrhundert gilt das Auge immer noch und mehr denn je als das Erkenntnisorgan, was sich schnell auf die Kamerakunst von Film und Fernsehen übertragen hat.35
35 Vgl. Kap. 2.1.
Parallel zur rationalistischen Aufwertung des Auges im 18. Jahrhundert findet jedoch ein anderer Vorgang statt: seit jeher wurde das Auge auch mit dem Sexualtrieb assoziiert. Im Zeitalter der Aufklärung wird es nun auf umgekehrten Wege zu einem Symbol für Triebsublimation, Verzicht. Damit wird der Grundstein zum modernen Typus des Voyeurs gelegt. In der Romantik kehren Künstler zurück zur Religion. Doch die Aufklärung hat dem Auge die Dimension des göttlichen Weltzusammenhangs genommen. Was dem Romantiker zurückbleibt, ist das Schreckensbild einer Welt, die ihren Bezugspunkt verloren hat. Die Folge: das Auge steht fortan im Dienst des Bösen und Satanischen und wird zum Ort jener Kräfte, die die Aufklärung zu verdrängen suchte – Sexualität, Wahninn, Gewalt und Tod. Es wird wieder zum »Trieborgan« und steht für die dunklen Seiten der Sexualität: Vergewaltigung und Perversion. Auge und Tod werden zu einer sinnbildhaften Einheit. Im Sinne einer »negativen Dialektik« werden nun alle positiven Eigenschaften, die die Aufklärung des Auge zuschrieb, entwertet und negativ besetzt.36
36 Kirchmann 1989, S. 170.

Kubrick greift in seinen Filmen auf all diese historischen Varianten des Zeichenkomplex »Auge/Blick« zurück. Bereits in 2001 – Odyssee im Weltraum findet man den einäugigen Gott in Gestalt des Bordcomputers HAL als perfektioniertes Auge Gottes. Er weiß alles und sieht alles. Religion und Aufklärung werden hier vereint. Damit verbindet Kubrick jedoch die Schreckensvision: HAL reagiert wie ein strafender Gott, als er den Astronauten


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