- 325 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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hingestellt. Das Böse wird als »fehlgeleitetes Gutes« interpretiert. Kubrick hingegen negiert – wie bereits oben angedeutet – diese konventionellen Erklärungsmuster bzw. karikiert sie. Er selbst verweigerte wie sooft eine Eigeninterpretation: der Film müsse als Kunstwerk für sich selbst stehen und eine eigene Aussage reflektieren.

Die dramaturgische Anlage des Films entspricht Kuchenbuchs Modell von der Komödie. Dies mutet wie ein eklatanter Widerspruch an: zwar beschreibt der Film eindeutig Alex’ Konflikt, Tiefpunkt, Wende und letztlich das »Happy-End«, nämlich seine wiederhergestellte Eingliederung in die Gesellschaft, doch haben Kubricks Gewaltdarstellungen alles andere als komödiantische Züge. Zwar bemüht er sich um einige slapstickähnliche Effekte wie beispielsweise die Schnittechnik während der Schlägerei am Spielkasino oder den extremen Zeitraffer während Alex’ Sex-Orgie mit den zwei Mädchen, doch liegt die Aussage des Films eindeutig im Bereich der Groteske, in der das Monströs-Grausige dem Komödiantischen zur Seite gestellt wird. Das Grauenvolle erscheint dabei zuweilen lächerlich. Der groteske Stil zeichnet sich dadurch aus, daß er scheinbar Unvereinbares miteinander verbindet, Seltsam-Abartiges dem Närrisch-Lustigem zugesellt. Dadurch werden der Gesamtform zum einen humoristische, zum anderen jedoch eher schaurige und sogar dämonische Züge verliehen. Das Element der Verzerrung und Entstellung wird so zum Ausdruck einer im ganzen entfremdeten Welt.32

32 Georg-Michael Schulz: »Groteske.« In: Schweikle 1990, S. 186.
Dementsprechend, so Schulz, findet sich die Groteske vor allem in Epochen, in denen das überkommene Bild einer heilen Welt angesichts der veränderten Wirklichkeit seine Verbindlichkeit verloren hat, die von unversöhnlichen Widersprüchen beherrscht wird. Gerade moderne Autoren sehen in der Groteske die realistische Wiedergabe der selbst grotesken Wirklichkeit. Der grotesken Darstellung wird so eine kritische Funktion zuerkannt. In Kubricks Film durchdringen sich wechselseitig tragische und auch zuweilen komische Elemente, die den Zuschauer letztlich verwirren. Kubrick entfaltet die Tragik der Geschichte, nämlich die kritische Darstellung einer Gesellschaft, in der der Einzelne nur überleben kann, wenn er den freien Willen hat, was an sich eine positive Bilanz ist, doch verschärft er dies durch den Zusatz, daß der Wille in der mechanischen Gewaltbereitschaft liegt. Somit stellt er den einzelnen komödienhaften Zügen eine bitterböse Zukunftsaussicht gegenüber, was er mit der oben zitierten Aussage über das Animalische im Menschen hinreichend dokumentiert. Der tragisch-groteske Aspekt wird im Laufe des Films vertieft: Alex’ Bereitschaft zur Gewalttätigkeit ist gekappt, was an sich als positiv zu gelten hätte. Doch Kubrick zerstört sogleich diesen positiven Ansatz, indem er Alex in seiner neuen Gutmütigkeit als wehrlos hinstellt in einer Gesellschaft, in der der freie Wille Gewaltbereitschaft bedeutet, um überleben zu können. Indem er in seinen Filmen das 18. Jahrhundert stets als negative Bezugsgröße hinstellt, ist auch Uhrwerk Orange ein Dialog über Vergangenheit und Zukunft. In dieser Hinsicht übt er der Groteske entsprechend indirekt Kritik an der Gegenwart, die schließlich das Ergebnis der Historie ist. Insofern ist Kuchenbuchs Modell formal gesehen zwar anwendbar, doch die dramaturgische Bedeutung liegt im Bereich der Groteske bzw. des Tragischen, denn Positives wird deutlich ins Tragische verzerrt.

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