- 322 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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die Anfang der sechziger Jahre einsetzte, waren beispielsweise in Schweden Ingmar Bergman, in Italien Federico Fellini oder Bernardo Bertolucci, in Großbritannien Roman Polanski und nicht zuletzt auch Stanley Kubrick. Mit dem Beginn der siebziger Jahre läßt sich parallel zu der Entwicklung zahlreicher gesellschaftlicher Subkulturen auch ein Entwicklungsschub in beiden klassischen Themenbereichen des Spielfilms feststellen - Sex und Gewalt. Viele Produktionsfirmen in Europa und Amerika widmeten sich ganz neuen, stark angstbesetzten Themen wie Aggressionen, Katastrophen, Hexen oder Teufel.28
28 Vgl. Kap. 9.1.
Die Thematisierung von Gewalt im Film der siebziger Jahre ist in den ersten Jahren noch stark geprägt von Motiven der Rock- und Jugendkultur. Diese spiegelt sich auch im Film Uhrwerk Orange wider. Die politische Irritation zu Anfang der siebziger Jahre, speziell in den Vereinigten Staaten, gegenüber der zunehmenden »Gewalt auf der Straße« als ein Spiegel der Rockkultur wird auch im Film Uhrwerk Orange zynisch karikiert, aber darüber hinaus als bloße Funktion einer anderen Gewalt entlarvt, die in den gesellschaftlichen Strukturen begründet ist. Die Gewalt erzeugt nach einem simplen Schema Gegengewalt, der Protagonist wird zu einem zum Helden stilisierten Einzelgänger im Kampf gegen das gesellschaftlich Böse.29
29 Werner Faulstich/Helmut Korte: »Der Film zwischen 1961 und 1976: ein Überblick.« In: Faulstich/Korte 1995, S. 32.
Die Filme der Zeit zelebrieren diese Thematik teils kritisch, teils jedoch wie ein Ritual, in dem die Gewalt fern von jeder Kritik verherrlicht wird.

Auch in zahlreichen anderen Werken der Literatur spiegelte sich der allgemeine Zweifel an bestehenden Gesellschaftsordnungen wider. Doch sowohl Film, Literatur als auch die Formen der Kunst wie die neue Pop-Art verweisen auf denselben Hintergrund: auf die tiefe Unsicherheit, was die Legitimität der strafenden Gewalten betrifft, eine Unsicherheit gegenüber der Verläßlichkeit der staatlichen Instanzen und insgesamt gegenüber dem tradierten Normensystem und den Formen seiner Verinnerlichung. Demgegenüber stand die verbreitete Hoffnung auf die Etablierung rigoroser Kleinbürgermoral, die Kubrick kontinuierlich thematisiert.30

30 Kuchenbuch 1995, S. 217.

In Uhrwerk Orange läßt sich Kubrick über Themen aus, die seiner gesellschaftsorientierten Dialektik entstammen. Sie spiegeln sich auch in der Gesellschaft der Entstehungszeit des Films wider – das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Pop-Subkulturen. Damit demonstriert Kubrick wiederum die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft, indem er seinem Film neben dem Gegenwartsbezug auch eine futuristische Seite abgewinnt. Sexualität, Drogen, Psychoanalyse, Faschismus, Brutalität und Religion sind seine Themen, wobei die Gewalt das beherrschende Thema ist, die mit Sexualität verquickt ist. Als solcher ist Uhrwerk Orange soziologisch definiert und kann trotz seiner Anlage als Autorenfilm einer Variante des Genre des Sex and Crime zugeordnet werden. Dieses Genre gilt eigentlich seit den Anfängen des Kinos als unverzichtbarer Bestandteil des Mediums Film. Doch angesichts der Welle von Horror- und Pornofilmen, die in den letzten Jahren den Filmmarkt geradezu überschwemmt haben, muß man unterscheiden. Der entscheidende Anspruch liegt in der ästhetischen Wertung. Während die Darstellung von Sexualität und Gewalt in den Bereich jener Horror- und Pornofilme, den sogenannten B-Pictures, abgeschoben wird, gilt sie im künstlerisch ambitionierten Film in den siebziger Jahren wie heute noch immer als ein Tabu. Indem Kubrick jedoch auf jegliche Darstellung von Sexualität nahezu verzichtet, entzieht er sich somit dieser Kritik. Insofern kann sein Film als eine Variante dieses Genre gelten.


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