Motiv des Doppelgängers
Ausgehend vom Menschenbild Kubricks spielt auch das Motiv des Doppelgängers eine
Rolle. Kubrick zerstört die Definition vom einzigartigen Subjekt. Diese Aufspaltung des
Ichs findet ihre Entsprechung in Kubricks Verteilung von Persönlichkeitsmerkmalen auf
verschiedene Figuren, die alle Facetten eines Ichs verkörpern. Der Konflikt zwischen
diesen sich widersprechenden Facetten einer Figur ist übergeordnet wiederum der
Gegensatz zwischen apollonischen und dionysischen bzw. dämonischen Anteilen der
Gesellschaft. Allerdings verharrt Kubrick nicht bei der bloßen Trennung, vielmehr
durchdringen sich beide Facetten gegenseitig. Der Feind des Protagonisten ist ebenso
eine Verdopplung seines eigenen Ichs. Die saubere Trennung zwischen »Original« und
»Double« ist bei Kubrick kaum noch möglich – wiederum eine klare Symmetrie in seiner
Figurenkonstellation.
Uhrwerk Orange demonstriert Kubricks Orientierung am europäischen Ästhetizismus
wie auch dementsprechend seine gesamte Thematik und Motivik. Auch in der Zeit vor
der Entstehung des Films war er auf der Suche nach neuen Stoffen in der ständigen
Sorge, keine Vorlage mehr zu finden, die den selbstgesetzten Ansprüchen genügen
könnte. Er ist durchdrungen von dem Gedanken, daß eine »große Erzählung eine Art von
Wunder ist«, wobei er kritisch genug ist, »Blei nicht in Gold verwandeln« zu
wollen.25
Seit langem schon plante Kubrick, einen Napoleon-Film zu drehen. Doch mit der
ökonomischen Krise Hollywoods zerschlug sich diese aufwendige Verfilmung im Sommer
1969. Zur selben Zeit liest Kubrick den Roman A Clockwork Orange von Anthony
Burgess aus dem Jahre 1962. Er reagiert sofort und schreibt das Drehbuch selbst.
Obwohl er bisher vorzugsweise mit den Autoren der Romanvorlagen zusammengearbeitet
hat, beispielsweise für Lolita (Vladimir Nabokov) oder 2001 (Arthur Clark), beschränkt
sich sein Kontakt mit Burgess auf ein Telefongespräch.
Burgess26
26 Anthony Burgess: A Clockwork Orange. London 1962.
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knüpft in seinem Roman an die Tradition der Gewalt- und Drogenliteratur der fünfziger
und frühen sechziger Jahre an und greift zugleich die Thematik der verwahrlosten
Jugend sowie des problematischen Helden auf. Filmische Pendants dazu waren
beispielsweise Vorbilder wie James Dean in ...Denn sie wissen nicht, was sie tun
(USA 1955) oder die Verfilmung der West Side Story (USA 1960). Burgess’ Roman
ist eine kulturpessimistische Satire auf die »Unverbesserlichkeit der menschlichen
Wolfsnatur.«27
27 Thomas Kuchenbuch: »Aggression und Verbrechen: Uhrwerk Orange (A Clockwork Orange,
1971).« In: Faulstich/Korte 1995, S. 215.
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In diese Traditionsgeschichte fällt auch die Entstehung des Filmes Uhrwerk Orange. Wie bereits
in Zusammenhang mit der These erwähnt, war die Filmentwicklung der sechziger Jahre
besonders durch das anhaltende »Kinosterben« in allen Industrieländern geprägt als Folge der
versäumten Reaktion der Filmindustrie auf die Herausforderung durch das neue Medium
Fernsehen. Besondere Auswirkungen hatte dies auf die Filmmetropole Hollywood.
Massenentlassungen und Produktionseinschränkungen waren die Folge. Ästhetische
Innovationen waren im Hollywood-Massenkino, das auf handwerklich-glatten Breitenerfolg
ausgerichtet war, selten möglich. Die Folge: Innovationen entwickelten sich mehr denn je
außerhalb Hollywoods im europäischen, japanischen und lateinamerikanischen Film, die in der
Regel auf spezifische Publikumsgruppen zugeschnitten waren. Generell war diese Entwicklung
eng verbunden mit einer Verlagerung von der unpersönlichen Fließbandproduktion zu einer
ästhetischen Individualisierung der filmischen Aussage. Regisseure dieser Bewegung,
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