- 320 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (319)Nächste Seite (321) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Menschenbild

Hat Kubrick in Paths of Glory (Wege zum Ruhm) und Spartacus noch ein Menschenbild illustriert, das sich klar in »Gut und Böse« einteilen läßt, so ändert sich dies mit dem Film Lolita. Der Dualismus von Gut und Böse weicht einer Dialektik, die das Böse als logische Konsequenz und Produkt des gesellschaftlich verordneten Vernünftig-Guten sieht. Damit einher geht eine radikale Wandlung seiner Figurenkonzeption. Man hat Kubrick seitdem oft vorgeworfen, daß er sich in seinen Filmen nicht mehr für den Menschen interessiere, sondern ihn ausschließlich durch leblose Maschinen oder Marionetten ersetzt.23

23 Ciment 1980, S. 114.
Dieser Vorwurf ist insofern berechtigt, da der Zuschauer es seitdem nicht mehr mit menschlichen Individuen zu tun hat, sondern mit Abbildern von Figuren und Typen, die einen modellhaften Gegenentwurf zum geltenden Menschenbild verkörpern. Kubrick zielt so auf Distanz zwischen Zuschauer und Filmfiguren und läßt konsequent jedes Moment, das emotionale Anteilnahme erwecken könnte, heraus. Aus seiner ebenso distanzierten Position führt Kubrick dem Zuschauer seine Figuren vor, ohne deren Handlungen zu erklären. In den meisten Fällen erfährt dieser so gut wie nichts über die Biographie des Protagonisten, er bleibt ihm als Figur fremd und distanziert. Seine bösen Taten werden durch nichts erklärt oder gar entschuldigt im Sinne des versteckten Guten im Bösen, das der bürgerlichen Moral entsprechen würde. Damit unterminiert Kubrick den Begriff des »autonomen Individuums«, der noch als letzte Instanz eine Versöhnung mit bürgerlicher Ästhetik garantieren könnte. Doch die Möglichkeit der freien Entscheidung zwischen Gut und Böse – der Triumph der Willensautonomie einer aufgeklärten Gesellschaft – fällt bei Kubrick in sich zusammen. Nicht als Gegner, sondern als Bestandteil eines räderhaften Systems, in dem die Protagonisten sowohl Täter als auch Opfer sind, werden die Figuren präsent. Indem Kubrick seinen Figuren jedoch die Autonomie des Willens abspricht und den Mechanismus zum eigentlichen Motor der Handlung erhebt, rückt er sie in die Nähe von Marionetten oder Maschinen. Ciment führt dazu aus, daß »Marionetten, Automaten, Puppen, Statuen in zahlreichen Kubrick-Filmen auf eine Welt hindeuten, in der der Mensch innerhalb einer sinnentleerten Gesellschaft nur noch eine gefügige Maschine, ein Spielzeug ist, ein dienender Geist in einem Universum voller Trugbilder.«24
24 Ciment 1980, S. 136.
Umgekehrt sind die Maschinen diejenigen, die menschlich reagieren und ein Eigenleben führen, das die mechanisch reagierenden Menschen nicht mehr beherrschen können. Diese Verkehrung von Mensch und Maschine ist weniger eine Entartung als vielmehr wiederum die logische Konsequenz einer Gesellschaft, die von dem Willen besessen ist, alles Lebendige zu mechanisieren. Der Mensch, der wie ein mechanisches Uhrwerk funktioniert, wird zum Idealbild erhoben. Seine Regelhaftigkeit und Perfektion soll das reibungslose Funktionieren von Individuum und Gesellschaft garantieren. Doch genau dies führt ins Gegenteil: das mechanische Agieren von Individuum und Gesellschaft ist Ursprung und Auslöser des gesellschaftlich Nicht-Akzeptierten. Kubricks Aufklärungsdialektik straft sich wiederum selbst.

Erste Seite (i) Vorherige Seite (319)Nächste Seite (321) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 320 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik