- 318 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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einen sorgfältig ausgearbeiteten Formalismus geprägt sind. Der Nachteil: die Bilder sind leblos, da der »Tektonismus« des Regisseurs hochgradig erkennbar wird. Die vielkritisierte Kälte in Kubricks Bildern liegt in der Verbannung des Natürlichen und Lebendigen. Kirchmann hält dieses Prinzip jedoch nicht für einen reinen Selbstzweck, sondern für ein Mittel, die Ordnung als gesellschaftliches Organisationsprinzip zu thematisieren und zu visualisieren. Auf diese Weise spielt gerade das Lebendige eine große Rolle in den Bildern, das eine entgegengesetzte Welt charakterisiert. Vor diesem Hintergrund korrespondiert Kubricks Ikonographie und Geometrie mit dem Grundthema, der Dialektik zwischen präzise geplanter Ordnung und unbändigem Chaos. Die gesellschaftliche Realität wird dadurch zu etwas künstlich Geordnetem, in dem das unbegrenzte Chaos umso deutlichere Wirkung erzielt.

Familien- oder Gesellschaftskrieg

In Kubricks Filmen befindet sich die Welt entweder stets »am Rande des Abgrunds« oder im Krieg, so daß dies quasi als Normalzustand der Menschheit erscheint. Fear and Desire, Paths of Glory (Wege zum Ruhm), Dr. Strangelove (Dr. Seltsam) und Full Metal Jacket (1987) thematisieren alle die Darstellung des mitunter »Kalten Krieges«. Aber das Thema von Gewalt und Krieg gestaltet auch weite Teile von Barry Lyndon, Spartacus, Uhrwerk Orange oder 2001. Den Filmen mit einer Kriegsthematik stehen jene »Familienfilme« gegenüber wie Lolita, Shining sowie die zweite Hälfte von Barry Lyndon. Doch trotz ihrer innerfamiliären Thematik stellen auch sie gewalttätige Zustände dar – die Fortsetzung des Gesellschaftskrieges mit anderen Mitteln.18

18 Ciment 1980, S. 70.
In diesem Zusammenhang verbannt Kubrick mit strenger Konsequenz das Frauenbild aus seinen Filmen und stellt diesem eine reine Männerwelt gegenüber, die dem Ideal einer aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft entspricht, die dem Grundsatz folgt, daß die Natur – die Mutter des Menschen – zu fürchten und zu lieben sei.19
19 Kirchmann 1995, S. 57.
Mit der Verbannung der Frau verwehrt er den Dramaturgien seiner Filme auch den »Naturzustand«, dem seine Kriegsprotagonisten gegenüberstehen. Im tieferliegenden Sinne haben seine Protagonisten damit die Natur zum eigentlichen Feind. Doch das Paradoxe in Kubricks Filmen ist stets, daß seine Protagonisten gerade in der realen Kriegssituation in ihrem »wahren Naturzustand« erscheinen: lustvoll mordend, animalisch schreiend und obszön fluchend, da die Natur zum Urwesen des Menschen gehört. Im Kriegszustand kommt die »Ur-Bestie« im Menschen zum Vorschein, weil diese im gesellschaftlichen Konditionierungsprozeß verdrängt wird. Der Riß zwischen gesellschaftlicher Verbannung und Naturzustand ist offenbar und zum Scheitern verurteilt. Aus diesem Grunde zeigt Kubrick als Konsequenz in seinen Filmen stets, wie eine kultivierte Gesellschaft versucht, dieser ureigenen Aggression des Menschen Herr zu werden, indem die Gewalt eingebunden wird in eine Ordnung, eine mechanisierte Form, die zerstörerische Kräfte auf gesellschaftlich sanktionierte Felder umlenken und ihnen eine allgemein beherrschbare Gestalt verleihen, als solche eine Formalisierung des chaotischen Potentials der Gewalt. Solange Gewaltausübung im Rahmen der von der Gesellschaft festgelegten Rituale vonstatten geht, ist sie allgemein akzeptiert. So

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