- 316 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Der Aufklärung, dem Zeitalter, in dem Vernunft, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ihren Anfang nahmen, stellt er in Barry Lyndon eine Welt der Gewalttätigkeit und des Krieges entgegen. Die Ideale der Französischen Revolution werden in seinen Filmen als zum Scheitern verurteilt hingestellt. Den aufklärerischen Ideen setzt Kubrick romantische Motivik wie Unterbewußtsein, Dionysisches entgegen. Viele Kritiker werten seine Verurteilung der Ideale der Aufklärung als Nihilismus und Pessimismus. Kirchmann zufolge ist diese Kritik unberechtigt, denn seine Filme ließen an keiner Stelle erkennen, daß er in dem romantischen Gegenentwurf die Lösung dieses Anachronismus sähe. Zwar entlarvt er durch die romantische Motivik die Defizite von Vernunft und Logos, doch verharrt ihre Bedeutung allein in der Negation, ohne jegliche Möglichkeiten ihrer Überwindung aufzuzeigen.13
13 Kirchmann 1995, S. 36.
Im Fehlen dieser positiven Utopie liegt das Moment der Verweigerung, die Absage an das Prinzip der Sinnstiftung durch das Kunstwerk. Kubrick enthält sich einer Lösung ganz bewußt; daher sind seine Filme »nur« Kunstwerke. Sie thematisieren Defizite, ohne Lösungen anzubieten. Sie sind ästhetisch, ohne daß dieser Ästhetik ein sinnstiftendes Potential zugeschrieben wird. Sie kritisieren die Dialektik zwischen Aufklärung und Romantik, ohne eine Möglichkeit der Überwindung aufzuzeigen. Kubrick formuliert es so: »Ich glaube nicht, daß ein Kunstwerk eine andere Verantwortung übernimmt, als Kunstwerk zu sein.«14
14 Stanley Kubrick, zit. n. Kirchmann 1995, S. 28.

Doch Kubricks Interesse, die Aufklärung durch die instrumentalisierte Vernunft als etwas Negatives in seinen Filmen darzustellen, führt noch weiter, denn der Prozeß der Aufklärung zog gleichzeitig einen Prozeß der Verdrängung und der Entfremdung von der Natur nach sich. Die Kultivierung aller Lebensräume geht einher mit der gewaltsamen Ausgrenzung all dessen, was sich durch das Mittel der Vernunft nicht beherrschen läßt – das Irrationale, Phantasien und Gefühle. Durch den Akt der Ausgrenzung werden Unvernunft, Natur und Chaos zu etwas Gefährlichem deklariert. Diese Bereiche wurden als gefährliches Gedankengut bekämpft, am deutlichsten die Körper- und Naturgebundenheit des Menschen, die Bereiche des Todes und der Erotik: »Daß sie die natürlichen Grundlagen des Seins in dieser Radikalität zum Objekt sozialer Verdrängung macht, unterscheidet die aufgeklärt-bürgerliche Gesellschaft von allen vorangegangenen. Indem sie versucht auszugrenzen, was auf Dauer nicht auszugrenzen ist, schafft sich diese Gesellschaftsform einen unlösbaren und permanenten Konfliktstoff; denn die derart dämonisierten Triebstrukturen sind ein zu wesentlicher Bestandteil menschlichen Seins, als daß ihre gewaltsame Verdrängung nicht zu beträchtlichen Störungen im individuellen wie im sozialen Leben führen würde.«15

15 Kirchmann 1995, S. 38.

Dadurch beginnt ein Zirkel von Gewalt und Gegengewalt, wobei das zunächst durch die Perspektive der Aufklärung verurteilte Natürliche auf der Basis dieses dialektischen Prinzips zum real Negativen wird. Gleichzeitig geht die »schrittweise Verbesserung« des Menschen durch Vernunft einher mit Machtansprüchen und Herrschaftsstrukturen. In dem Maße, wie sich die bürgerliche Gesellschaft durch rationale Strukturen ausdifferenziert, ist Disziplin nicht länger eine Leistung des Individuums, sondern wird von außen institutionell abverlangt. So werden auch


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