- 315 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Davon ausgehend zieht sich diese ästhetische Thematik konstant durch sein Filmwerk, auch wenn er sie jedesmal in einem anderen Genre präsentiert. Sie sei im folgenden besonders in Anlehnung an Kirchmann skizziert.

Das 18. Jahrhundert als dramaturgische Bezugsgröße

Zu Kubricks zyklischen Deutungshinweisen, die als scheinbar unmotivierte, letztlich jedoch »perfektionistische Chiffren« in die Dramaturgie hineingeworfen werden, gehören seine kontinuierlichen Anspielungen auf das 18. Jahrhundert. Dies gibt Anlaß zu der Vermutung, daß Kubrick dieser Epoche eine funktionale Schlüsselposition in seinem Werk einräumt. Der Bezug zum Zeitalter der Aufklärung äußert sich beispielsweise in der Architektur, in der Mode und der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts als Element seiner Ikonographie. Dabei nimmt er meist keinerlei Rücksicht auf den narrativen Zusammenhang, beispielsweise das Schloß in Paths of Glory (Wege zum Ruhm) oder das Zimmer am Ende von 2001 ebenso wie das Kasino in Uhrwerk Orange, die alle im Stile des 18. Jahrhunderts gebaut sind. Besonders in den beiden letztgenannten Filmen ist der Anachronismus zwischen dem 18. Jahrhundert und dem Handlungszeitraum des Films besonders auffällig. Spätestens seit Lolita häufen sich diese Anachronismen, welche die Handlungen des Films nicht zwingend erforderlich machen. So ist es nicht unbedingt notwendig, daß Bowman sich in 2001 am Ende seiner intergalaktischen Reise in einem Salon wiederfindet, welcher der Zeit Louis’ XVI. nachempfunden ist. Nicht zuletzt erteilt Kubrick diesen Bezug nicht länger subtil, sondern ganz offensichtlich in seinem Film Barry Lyndon, der in dieser Epoche spielt. Auf diese Weise demonstriert er einen Bezug zu Themen und Ereignissen des 18. Jahrhunderts, die er in seinen Filmen funktionalisiert.

Das 18. Jahrhundert ist eine Epoche des Wandels und der Ursprung bürgerlicher Herrschaftsformen, doch vor allem der Ausgang eines allumfassenden Rationalisierungsprozesses und der fast schon instrumentalisierten Vernunft. Zwar differenziert Kubrick nicht großartig zwischen den verschiedenen Schulen und Tendenzen der Aufklärung, doch ist dies für ein ästhetisches Produkt wie dem Film auch nicht zwingend erforderlich. Sein Interesse gilt weniger der historischen Aufarbeitung als vielmehr ihrem modellhaften Charakter, nämlich das Prinzip der Aufklärung sichtbar zu machen, will sagen den Gegensatz zwischen Vernunft und Leidenschaft. Daraus leiten sich ebenso seine Antagonismen zwischen Symmetrie und Formlosigkeit, Ordnung und Chaos sowie Planung und Zufall ab.11

11 Thomas Allen Nelson: Kubrick: Inside a Films Artist’s Maze. Bloomington 1982, S. 143.
Aus diesen Antagonismen heraus ergaben sich Konflikte, die bis in die Gegenwart hereinreichen: »In vieler Hinsicht ist die moderne Welt ein Abkömmling des Zeitalters der Aufklärung. Für ihn [Kubrick] ist das Kunstwerk ein Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft, in dem die Gegenwart, d.h. das Leben, kein Thema ist.«12
12 Ciment 1980, S. 66.

Diesem Prinzip folgend, negiert Kubrick jeglichen Fortschrittsglauben an die Menschheit. Dementsprechend stellt er das 18. Jahrhundert in seinen Filmen als negativ behaftet hin. Dies erreicht er besonders oft durch die Darstellung von Gewalt.


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