- 314 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (313)Nächste Seite (315) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

bereits Hinweise auf sein nächstes Projekt gibt, doch hatte Kubrick regelmäßig bei Abschluß eines Films weitreichende Vorbereitungen für seinen nächsten getroffen. Mit diesen Querverweisen in seinem Werk geht auch eine thematische Motivik einher, die sich unter der Oberfläche verschiedener Genre wiederholt und konstante Inszenierungsmodi und thematische Muster verfolgt. Diese läßt sich jedoch oft erst auf den zweiten Blick erkennen. Die Motivik seines Hauptwerkes, das nach zwei Dokumentarfilmen und Fear and Desire (1953) mit dem Film The Killer’s Kiss (Der Tiger von New York) beginnt, ist regelmäßig durch sein Bekenntnis zum Ästhetizismus gekennzeichnet. Aus diesem Grunde spiegelt die Debatte um Kubricks Filme in erster Linie die Kontroverse um die Akzeptanz des Ästhetizismus als ästhetisches Programm wider.7
7 Kirchmann 1995, S. 28.

Exkurs: Ästhetizismus

Im allgemeinen ist der Ästhetizismus eine Kunst- und Geistesepoche des späten 19. Jahrhunderts, die vor allem in der Literatur und Malerei ihre Ausformulierung gefunden hat. Als Hochburg des Ästhetizismus gilt das Frankreich nach der Revolution von 1848. In der Literaturgeschichtsschreibung werden für den Begriff des Ästhetizismus auch die bereits zitierten Epochenbegriffe des Fin de siècle und der Décadence sowie des Symbolismus angewandt. Gemeinsamer Nenner sowohl aller Länder als auch zwischen Kunst und Literatur ist die radikale Absage an die klassisch-bürgerliche Kunstdoktrin des prodesse et delectare und die damit verbundene Forderung nach einer Kunst, die sich selbst genügt und nur ästhetischen Wertmaßstäben verpflichtet ist. Dies bedeutete auch die Negierung des im Zeitalter der Aufklärung entstandenen Ideals der ars utile, der nützlichen Kunst, die im Dienste des bürgerlichen Emanzipationsgedanken stand.8

8 Kirchmann 1995, S. 29.
Der Ästhetizismus als Spätphase der Romantik steht jedoch nicht in absolut scharfem Gegensatz zur Epoche der Aufklärung. Wie bereits in bezug auf Mahlers Kompositionsprinzipien dargelegt, versagt sich der Ästhetiker bei aller Opposition zum rationalistischen Weltbild der Aufklärung dennoch einem utopischen Weltbild in Erinnerung der Erfahrungen der Frühromantiker. Vielmehr begreift er die durch die Aufklärung und die Frühromantik entwickelte gegensätzliche Dialektik von Logos und Mythos bzw. Rationalität und Irrationalität als eine »Dialektik im Stillstand«9
9 Kirchmann 1995, S. 30.
, die nicht mehr auf einer weiteren Ebene zu synthetisieren ist. Nichts liegt also sowohl dem Spätromantiker als auch dem Ästhetiker ferner als der Glaube ihrer frühromantischen Vorfahren, der den durch die Aufklärung bewirkten Rationalisierungsprozeß in eine regressiv-irrationale Utopie umkehrte. Vielmehr bedingen Logos und Mythos sich gegenseitig, vergleichbar mit Manns/Viscontis dionysischem und apollonischem Prinzip. Nur im Prozeß des Kunstschaffens kann dieser Riß im Bewußtsein des 19. Jahrhunderts zeitweilig befriedet werden. In dieser Zeit handelt es sich um ein »modernes« Bewußtsein, das sogar bis ins 20. Jahrhundert seine Gültigkeit beansprucht. An diesem Punkt setzt auch Kubricks Dialektik in seinen Filmen an, in denen er stets die weltanschaulichen Entwürfe der Aufklärung und der Romantik verbindet und die Dialektik des Stillstandes als ästhetisches Prinzip begreift. Kirchmann zufolge beschäftigt er sich in seinen Filmen in spielerischer Form mit der Konfrontation aufklärerischer und romantischer Weltentwürfe. Kirchmann formuliert es genau: »Kubrick blickt mit den Mitteln des Films (eines Mediums des 20. Jahrhunderts) und der Motivik und der Perspektive des 19. Jahrhunderts (Romantik) vor allem auf das 18. Jahrhundert (Aufklärung), da er dort Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart und der näheren Zukunft zu finden glaubt. Was dabei herauskommt [...], ist eine Revitalisierung eines ästhetischen Programms des späten 19. Jahrhunderts: des Ästhetizismus.«10
10 Kirchmann 1995, S. 32.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (313)Nächste Seite (315) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 314 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik