Diese Gesichtszüge nimmt Leverkühn später ebenso im Doktor Faustus wahr.
Diese Beschreibung, so Maar, sei sicherlich nicht darauf zurückzuführen, daß
Mann gerade keine andere Bildvorlage zur Hand gehabt hat. Warum also
Mahler? Möglicherweise, um den ebenso autobiographisch geprägten Gustav von
Aschenbach217
217 Vgl. auch Klaus Schröter: Thomas Mann. Reinbek 1998, S. 68–70.
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via
Mahler zu evozieren.218
Damit wäre ein weiteres Mal bestätigt, was bereits des öfteren bemerkt wurde, nämlich die
Nähe der beiden Werke Der Tod in Venedig und Doktor Faustus: in beiden geht es um die
Gestaltung des Dekadenz- und Künstlerproblems. In dieser Hinsicht, so Maar, kann das
Alterswerk Doktor Faustus als »vertiefter, erweiterter, gesteigerter Tod in Venedig«
angelegt sein. Der Roman wie die Novelle handeln von einem schwierigen, einsamen,
überkritischen und von Sterilität bedrohten, doch Großes hinterlassenden Künstler und seinem
Untergang.
Hinsichtlich der Künstlerdarstellung war Aschenbach daher nicht von ungefähr an Mahler
orientiert. Hinzu kommt die persönliche Beziehung Thomas Manns zu Gustav Mahler. Sehr viel
früher als üblicherweise angenommen macht Mann Bekanntschaft mit Mahlers Musik. Bereits
im Jahre 1904 hört er sich eine Aufführung der dritten Sinfonie an. Im selben Jahr berichtet er
von dem Probenbesuch eines weiteren Mahler-Konzerts. In diese Zeit fällt auch seine
Einführung in das Haus Pringsheim, in dem Mahler nicht nur verehrt, sondern auch persönlich
eingeladen wurde. Im Jahre 1910 macht Mann über Pringsheim seine persönliche Bekanntschaft
mit dem Komponisten, wahrscheinlich nach der Generalprobe der achten Sinfonie. Den Abend
nach ihrer Uraufführung verbringt Thomas Mann im Hotel in der Gesellschaft des Gefeierten,
kann ihm aber nicht sagen, »wie tief er ihm für die Eindrücke vom 12. September verschuldet
war.«
»Es Ihnen wenigstens anzudeuten, ist mir ein starkes Bedürfnis, und so bitte
ich Sie, das beifolgende Buch – mein jüngstes – gütigst von mir annehmen zu
wollen. Als Gegengabe für das, was ich von Ihnen empfangen, ist es freilich
schlecht geeignet und muß federleicht wiegen in der Hand des Mannes, in
dem sich, wie ich zu erkennen glaube, der ernsteste und heiligste künstlerische
Wille unserer Zeit verkörpert. Ein epischer Scherz.
Vielleicht vermag er Sie ein paar müßige Stunden lang auf leidlich würdige
Weise zu unterhalten.«219
219 Thomas Mann, Brief an Gustav Mahler im September 1910, zit. n. Erika Mann (Hrsg.):
Thomas Mann: Briefe 1889–1936. Frankfurt am Main 1962, S. 88.
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Dies schreibt er wenig später in einem Begleitbrief, den er zusammen mit dem
Exemplar seiner Königlichen Hoheit an den Komponisten schickt. Seine Worte
spiegeln ein hohes Maß an Bewunderung für Mahler. Nach der Uraufführung der
achten Sinfonie äußert Mann gegenüber seiner Frau Katja, es sei das erste Mal in
seinem Leben, daß er das Gefühl habe, einem wirklich großen Manne begegnet zu
sein.220
220 Th. Mann, 12. September 1910, zit. n. E. Mann 1962, S. X; vgl. auch Hans Rudolf Vaget:
»Film and Literature. The Case of Death in Venice: Luchino Visconti and Thomas Mann.« The
German Quarterly 53 (1980) 166.
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»Einem großen Mann, und einem großen Künstler, zu dem sich in Relation zu setzen der
Schriftsteller nicht umhin konnte, der ja eine Art vergleichender Selbstbeobachtung sein Leben lang
übte.«221
Wie Mahlers Persönlichkeit auf Mann einwirkte, wurde spätestens dann deutlich, als dieser während
eines Kurzurlaubs auf der Insel Brioni vom Tode des Komponisten am 18. Mai 1911 erfuhr. Mahlers
Tod lieferte Mann ein anschauliches Beispiel, wie eine »respektvoll erschütterte Welt die
Nachricht«222
vom Ende einer tragischen Künstlerexistenz empfing.
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