»Der Schaden [...] hat bei allen Mahler-Verehrern tiefste Erbitterung hervorgerufen.
[...] Wir fordern von Warner Brothers, daß in allen vorhandenen und zukünftigen
Kopien des Films ›Der Tod in Venedig‹ die Erklärung aufgenommen wird,
daß die Figur des Helden dieses Films frei erfunden ist [...] alle Rückblendungen,
die wirkliche Episoden aus Mahlers Leben zeigen [...] sind aus allen vorhandenen
und zukünftigen Kopien des Films zu entfernen, und der Name Gustav Mahlers
ist aus sämtlichen Ankündigungen zu eliminieren.«213
213 Avik Gilboa/Otto Klemperer/Fritz Mahler u.a.: »Protest gegen Mahler-Diffamierung.«
Österreichische Musikzeitschrift 27 (1972) 356–357.
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Die Aussagen sprechen zweifelsohne für sich. Bis heute ist Warner Brothers
verständlicherweise diesen Forderungen nicht nachgekommen, denn die »unterzeichneten
Persönlichkeiten« übersehen bei aller Verehrung des Komponisten eines: die
Persönlichkeit Gustav Mahlers war nicht die einzige Quelle, derer Visconti sich bediente.
Auch andere Werke Manns trugen zur Konzeption der Dramaturgie bei. Den Unmut
des Zuschauer jedenfalls dürfte dies kaum noch erregen. Viscontis Verfahren
illustriert vielmehr die Möglichkeit des Mediums Film, die Grenzen zwischen Film,
Musikgeschichte, Literatur oder gar Philosophie zu durchbrechen und daraus etwas
Neues zu schaffen, als solches eine »Symbiose« im Medienzeitalter. Damit erweist sich
Viscontis Verfilmung nicht nur als eine eigenständige Interpretation der Venedignovelle,
nicht nur als schlichte Umsetzung in ein anderes Medium, die ihren eigenen Gesetzen
untersteht; er ordnet seine Verfilmung ebenso dem Gesamtwerk Thomas Manns
zu.
Exkurs: Gustav Mahler und Thomas Mann
In diesem Zusammenhang ist in letzter Instanz – auch hinsichtlich der These – auf
die immense Bedeutung hinzuweisen, die Gustav Mahler für Thomas Mann hatte.
Maar214
214 Michael Maar: »Der Teufel in Palestrina: Neues zum Doktor Faustus und zur Position Gustav
Mahlers im Werk Thomas Manns.« Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 30 (1989)
211–247.
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hat in seiner Untersuchung die Position Gustav Mahlers im Werk Manns akribisch
untersucht und kommt dabei zu überzeugenden Ergebnissen, welche die obengenannten
Vorwürfe der Mahler-Anhänger letztlich als kurzsichtige »Scheuklappenmentalität«
entlarven dürften. Die Parallelen reichen von der äußeren Erscheinung bis zur
kontinuierlichen transzendentalen Andeutung Mahlers im Werk Thomas Manns. Bei
seinen detaillierten Beschreibungen griff dieser regelmäßig auf beliebige Bildvorlagen
zurück, um die Wirklichkeit souveräner fingieren zu können. Dabei stellte er bei
seinen Romanfiguren ebenso Parallelen mit bekannten Persönlichkeiten her. So ist
beispielsweise Professor Kuckuck aus dem Felix Krull nach einem Porträt Schopenhauers
beschrieben.215
Auch die Charakterisierungen seiner Figuren haben prominente Vorbilder. Die Darstellung der
Musiktheorie im Doktor Faustus gemahnt an Adorno wie gleichermaßen an Schönberg. Auch in
Manns Der Tod in Venedig finden sich zahlreiche Anklänge an Mahler, die das Verhältnis des
Schriftstellers zu dem Komponisten verdeutlichen dürften. Nicht nur, daß sein tragischer Held
den Vornamen des Komponisten trägt, auch dessen äußere Züge finden sich in der Novelle
wieder:
»Gustav von Aschenbach war ein wenig unter Mittelgröße, brünett, rasiert.
[...] Sein rückwärts gebürstetes Haar, am Scheitel gelichtet, an den Schläfen
sehr voll und stark ergraut, umrahmte eine hohe, zerklüftete und gleichsam
narbige Stirn. Der Bügel einer Goldbrille mit randlosen Gläsern schnitt in
die Wurzel der gedrungenen, edel gebogenen Nase ein. Der Mund war groß,
oft schlaff, oft plötzlich schmal und gespannt [...].«216
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