- 306 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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bezeichnet dies als das »deutlichste Zeichen« der modernen Mahler-Rezeption, doch zugleich als sinnverzerrend.211
211 Peter Wapnewski: »Gustav Mahler: Karriere als Passionsweg.« In: Hermann Danuser/Helga de la Motte-Haber: Das musikalische Kunstwerk. Geschichte, Ästhetik, Theorie (= Festschrift Carl Dahlhaus zum 60. Geburtstag). Laaber 1988, S. 612.
Dies ergänzt Eggebrecht: »Hier wurde Mahler, genauer: der Name Mahler, in eine massenhafte Öffentlichkeit transportiert. Doch irreführend sind die Herauslösung des Adagiettos aus dem Zusammenhang der Symphonie, die Ausdehnung dieser Musik auf Filmlänge und die filmische Bebilderung, indem nämlich dies alles den Anschein erweckt, als sei die sentimentale Schönheit des Stücks Musik gleichzusetzen mit Mahler – eine gegenüber Mahler in Szene gesetzte Nivellierung und Verfälschung, eine von der Kulturindustrie dargebotene Speise, die zwar satt macht und doch keinen Hunger stillt.«212
212 Hans Heinrich Eggebrecht: Die Musik Gustav Mahlers. München/Zürich 1982, S. 290.

Stellt sich die Frage, welchen Hunger eine Filmmusik zu stillen hat. Die Dramaturgie eines fiktionalen Films bietet kein Forum, um eine ganze Sinfonie zu bebildern. Dies wäre schlichtweg eine Verfehlung der Funktion einer Filmmusik, ganz gleich ob es sich um ein Zitat handelt oder um eine eigene Komposition. Natürlich ist Eggebrechts Einwand der Nivellierung von Mahlers Musik durch einen aus seinem sinfonischen Zusammenhang herausgenommenen Satz nicht ganz von der Hand zu weisen, doch kommt es (in Anlehnung an die oben gestellte Frage) wirklich darauf an? Nein. Eggebrechts Einwand demonstriert eine musikwissenschaftliche Haltung, die trotz der Einbindung des Adagiettos in einen mächtigen und komplexen dramaturgischen Zusammenhang an der Autonomie des Zitats festhält. Dabei übersieht er, daß Mahlers Musik bereits mit dem Vorspann des Films funktionalisiert wird, ihr autonomer Wert ist hier nicht mehr von Interesse. Der autonome Kontext des Adagiettos, der Eggebrecht zufolge durch die Isolierung des Satzes verlorengeht, wird dagegen in Viscontis Film durch die ihm eigenen Mittel der dramaturgischen Umsetzung transparent.

Auch in den siebziger Jahren gab es Protest seitens mancher »Mahler-Verehrer«, die in Viscontis Film eine »Mahler-Diffamierung« sehen wollten. Die Österreichische Musikzeitschrift hat ihr Protestschreiben veröffentlicht. Einige Auszüge seien hier zitiert: »Wie aber steht es um den Zusammenhang, den die Novelle ›Der Tod in Venedig‹ mit Gustav Mahler haben soll? Hiermit sei festgestellt, daß der Inhalt der Novelle nichts – absolut nichts – mit Gustav Mahler zu tun hat, noch hat Gustav Mahler etwas mit dem Inhalt der Novelle zu tun. [...] Luchino Visconti hat in seinem Film den Inhalt von Thomas Manns Novelle wie auch die historischen Tatsachen eigenwillig verfälscht, indem er aus dem Schriftsteller Gustav von Aschenbach einen Komponisten werden ließ, der in vielen Details peinlich genau Gustav Mahler ähnlich gemacht wurde, einschließlich des leichten Schleppens seines linken Fußes. [...] Indem Aschenbach mit Mahler identifiziert, und dabei willkürlich unterstellt wird, daß die Novelle ›Der Tod in Venedig‹ auf einer Episode aus Mahlers Leben basiert, hat der Film das Andenken an den großen Komponisten beschmutzt. Im Film ist dargestellt, wie Mahler, der in Wien unter völlig anderen Umständen starb, den schimpflichen Tod des Helden der Novelle erleidet, der nach dem Autor ›lüsterner Auflösung erliegt.‹«

Weiter heißt es:


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