- 305 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Aschenbachs noch schlüssiger sichtbar und hörbar gemacht werden, die im Text zumeist Gegenstand des Erzählkommentars oder der von Mann beschriebenen inneren Wahrnehmung des Protagonisten ist.209
209 Renner 1987, S. 144.
Überzeugend ist auch, daß Visconti Mahlers Adagietto als Leitthema ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Visconti bemüht sich um das Bild des Künstlers inmitten der Gesellschaft des Fin de Siècle, die um die Jahrhundertwende in ihre dekadente Phase gerät. Dabei vermag die Filmmusik die Psyche einer Figur wie Aschenbach weitaus effizienter und nuancierter wiederzuspiegeln als bloße Erzählkommentare aus dem off. Es ist also ein Kunstgriff des Films, daß er alles Erzählte nicht nur durch Visualisierung verdichtet, sondern zugleich durch Gesten und besonders durch die Musik. Diese tritt nahezu vollständig an die Stelle der Schrift. Damit fordert Visconti die Semantik des Adagiettos geradezu heraus, die bald jede Szene beherrscht und Sprache als Mittel der diskursiven Verständigung verdrängt. Damit wird insbesondere Mahlers Musik zu einem eigenständigen Ausdruckssystem, das selbst Fügungen, Verknüpfungen und Deutungen vornimmt, die meist visuell noch nicht fixiert sind. Auf diese Weise übernimmt sie nicht nur jene meist paraphrasierende, das Bild affirmativ interpretierende sowie psychologische Funktion, sie agiert zugleich in hohem Maße antizipierend. Erst im Zusammenwirken von Bild und Musik entsteht die Interpretation des geschriebenen Textes. Indem Mahler sich auf der Grenze zwischen Tradition und Moderne bewegt, ist der Komponist Aschenbach ebenso mit dem authentischen Thomas Mann vergleichbar, der als Autor Formen des traditionellen Erzählens bewahrt und zugleich neue Schreibweisen kennt und aufnimmt.210
210 Renner 1987, S. 144.

Doch auch der Film behaftet das Zitat mit einem neuen Etikett. So wird Mahlers Musik, besonders natürlich das Adagietto als Leitthema des gesamten Films in nahezu allen Sequenzen mit dem Nirwana- und dem Todesmotiv konfrontiert, die dramaturgisch gesehen auch das Motiv des Unechten und Dekadenten nach sich ziehen. Da Visconti Mahlers Musik zu einem herausragend eigenständigen Handlungsträger macht, ist die Prägung durch die Bilder, die erst zusammen mit der Musik eine eindeutige Aussage formulieren, durch diese dominanten Todessymbole noch nachhaltiger. Die Motive der Ewigkeit und des Todes im Film sind stets miteinander verwoben; insofern wird auch Mahlers Adagietto zur »süßen Todesmelodie«. Das Todesmotiv ist zwar im Mahlerischen Kontext vorhanden, doch ist es im Adagietto nicht explizit ausgewiesen. Liebe und der Rückzug ins eigene Ich werden dem gegenübergestellt. Darüber hinaus wird Mahlers Adagietto im Film stets mit dramaturgischen Symbolen der Schönheit und Dekadenz verbunden, die durch die visuelle Schönheit der Bilder ausgewiesen werden. In der letzten Einstellung wird diese Synthese zwischen dem Adagietto, dem Tod Aschenbachs und der Schönheit Tadzios im Licht des Sonnenuntergangs endgültig besiegelt.

Bezeichnenderweise wurde Mahlers Adagietto nach der Uraufführung des Films zu einem »Plattenknüller.« In Konzertplänen erschien der Satz bald nur noch als Einzelstück, die restlichen Sätze der Sinfonie gerieten dabei schnell in Vergessenheit. Auch heute haftet dem Adagietto noch das Visconti-Etikett an. So erscheinen – immerhin rund 30 Jahre nach der Uraufführung des Films – auf CD-Layouts noch immer Titel wie »Adagietto, Die Musik aus Viscontis Film Tod in Venedig.« Dahlhaus


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