- 304 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Realität. Nietzsches Worte »Die Welt ist tief, tiefer als der Tag gedacht« strecken sich im Film über fünf Einstellungen (10 bis 14). Es handelt sich um einen unsichtbaren Schnitt, der die Spannung einer möglichen ersten Kommunikation zwischen Tadzio und Aschenbach in einem Fluß präsentieren soll. Auf die Worte »ist tief« entgleitet Tadzio Aschenbach, indem er diesem vorausgeht und sich dann abwechselnd um die Holzpfeiler der Promenade schwingt als wolle er Aschenbach reizen. Das Motiv der Begegnung ist hier dominant. Der Text »tiefer als der Tag gedacht« findet Bestätigung: die Schönheit der Nacht, die Schönheit seines Meisterwerks, das seine Hinwendung zur Natur markiert, war nur trügerisch. Der Tag bringt die Realität ans Licht. Aschenbach kann die Natur nicht ausleben, Tadzio entgleitet ihm. Obwohl dieser ihn nahe an sich herankommen läßt, kann Aschenbach nicht mehr tun als ihm hilflos hinterherlaufen. Er ist nicht imstande, einen Kontakt zu dem Jungen herzustellen. Er kann seine Distanz zur Außenwelt nicht überwinden. Dennoch ist er Tadzio verfallen, sein Verhalten auf der Strandpromenade beweist dies. Die Erkenntnis seiner Unnahbarkeit trotz seines Bekenntnisses zur Natur bringt ihn an den Rand eines Schwächeanfalls, der Höhepunkt hat sich in einen Wendepunkt verwandelt, der unweigerlich den Fall des Helden nach sich zieht, Mahlers Musik wird fortan auch durch den Film semantisiert. Das melodisch unsicher kreisende Zwischenspiel (Takt 58), das das Ende im ursprünglichen Kontext signalisiert – das Ende wird bereits durch die erste Strophe vorweggenommen – bestätigt hier noch einmal die gescheiterte Idylle. Die Zuordnung der visuellen und der auditiven Ebene ist hier problematisch. Vom musikalischen Gestus her handelt es sich hier um eine klare Kontrapunktierung: zu den zarten Klängen des Zwischenspiels, das zum ersten Mal seine Dur-Tonalität konstant durchsetzen kann, ist Aschenbach einem Schwächeanfall nahe. Doch Ursache und Wirkung fallen hier auseinander: die Musik paraphrasiert eher die hervorgerufenen Emotionen wie Mitleid mit dem gescheiterten Helden. Zudem weist diese Diskrepanz auf einen höheren Funktionszusammenhang hin, die in der Semantisierung durch den Kontext des Zitates liegt. Das Zwischenspiel verweist auf den trügerischen Schein der Schönheit. Damit ist die Musik paraphrasierend, funktional gesehen wiederum eine affirmative Bildinterpretation. Mit der Auflösung der Kadenz in die Tonika (Takt 67) endet das Mitternachtslied. Idylle, Lust und Schönheit, kurz das Dionysische, haben in der Gegenart, am Tag, keinen Bestand. Das Ende auf der Kadenz stellt dies als gegeben hin. Aschenbachs Schwächeanfall zeichnet sein Ende bereits vor: er verfällt der Natur des Jungen, doch »alle Lust will Ewigkeit«: Tadzio weist ihm in der letzten Sequenz den Weg ins Jenseits, nur dort kann er die Natur ausleben.

11.1.5.  Zusammenfassung

Die These der Semantisierung, so wurde festgestellt, bestätigt sich in Viscontis Film in dreifacher Hinsicht. Der Mahlerische Kontext hat sowohl in Hinblick auf die Persönlichkeit Mahlers, seine Zeit als auch durch die analytische Werkimmanenz neben den genannten Quellen einen stark semantisierenden Einfluß, der sich stets auf den Protagonisten Aschenbach bezieht. Es ist einsichtig, daß Visconti aus Manns Schriftsteller einen Musiker macht, denn gerade auf diesem Wege kann durch die Verknüpfung optischer und akustischer Signale die innere Disposition


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