Realität. Nietzsches Worte »Die Welt ist tief, tiefer als der Tag
gedacht« strecken sich im Film über fünf Einstellungen (10 bis 14). Es handelt
sich um einen unsichtbaren Schnitt, der die Spannung einer möglichen ersten
Kommunikation zwischen Tadzio und Aschenbach in einem Fluß präsentieren soll. Auf
die Worte »ist tief« entgleitet Tadzio Aschenbach, indem er diesem vorausgeht und
sich dann abwechselnd um die Holzpfeiler der Promenade schwingt als wolle
er Aschenbach reizen. Das Motiv der Begegnung ist hier dominant. Der Text
»tiefer als der Tag gedacht« findet Bestätigung: die Schönheit der Nacht, die
Schönheit seines Meisterwerks, das seine Hinwendung zur Natur markiert, war nur
trügerisch. Der Tag bringt die Realität ans Licht. Aschenbach kann die Natur nicht
ausleben, Tadzio entgleitet ihm. Obwohl dieser ihn nahe an sich herankommen läßt,
kann Aschenbach nicht mehr tun als ihm hilflos hinterherlaufen. Er ist nicht
imstande, einen Kontakt zu dem Jungen herzustellen. Er kann seine Distanz zur
Außenwelt nicht überwinden. Dennoch ist er Tadzio verfallen, sein Verhalten auf der
Strandpromenade beweist dies. Die Erkenntnis seiner Unnahbarkeit trotz seines
Bekenntnisses zur Natur bringt ihn an den Rand eines Schwächeanfalls, der
Höhepunkt hat sich in einen Wendepunkt verwandelt, der unweigerlich den
Fall des Helden nach sich zieht, Mahlers Musik wird fortan auch durch den
Film semantisiert. Das melodisch unsicher kreisende Zwischenspiel (Takt 58),
das das Ende im ursprünglichen Kontext signalisiert – das Ende wird bereits
durch die erste Strophe vorweggenommen – bestätigt hier noch einmal die
gescheiterte Idylle. Die Zuordnung der visuellen und der auditiven Ebene ist hier
problematisch. Vom musikalischen Gestus her handelt es sich hier um eine
klare Kontrapunktierung: zu den zarten Klängen des Zwischenspiels, das zum
ersten Mal seine Dur-Tonalität konstant durchsetzen kann, ist Aschenbach
einem Schwächeanfall nahe. Doch Ursache und Wirkung fallen hier auseinander:
die Musik paraphrasiert eher die hervorgerufenen Emotionen wie Mitleid mit
dem gescheiterten Helden. Zudem weist diese Diskrepanz auf einen höheren
Funktionszusammenhang hin, die in der Semantisierung durch den Kontext des Zitates
liegt. Das Zwischenspiel verweist auf den trügerischen Schein der Schönheit. Damit
ist die Musik paraphrasierend, funktional gesehen wiederum eine affirmative
Bildinterpretation. Mit der Auflösung der Kadenz in die Tonika (Takt 67) endet das
Mitternachtslied. Idylle, Lust und Schönheit, kurz das Dionysische, haben in der
Gegenart, am Tag, keinen Bestand. Das Ende auf der Kadenz stellt dies als
gegeben hin. Aschenbachs Schwächeanfall zeichnet sein Ende bereits vor: er
verfällt der Natur des Jungen, doch »alle Lust will Ewigkeit«: Tadzio weist
ihm in der letzten Sequenz den Weg ins Jenseits, nur dort kann er die Natur
ausleben.
11.1.5. Zusammenfassung
Die These der Semantisierung, so wurde festgestellt, bestätigt sich in Viscontis Film in
dreifacher Hinsicht. Der Mahlerische Kontext hat sowohl in Hinblick auf die Persönlichkeit
Mahlers, seine Zeit als auch durch die analytische Werkimmanenz neben den genannten
Quellen einen stark semantisierenden Einfluß, der sich stets auf den Protagonisten
Aschenbach bezieht. Es ist einsichtig, daß Visconti aus Manns Schriftsteller einen
Musiker macht, denn gerade auf diesem Wege kann durch die Verknüpfung optischer und
akustischer Signale die innere Disposition
|