Weltsicht, in der »Lust und Weh« untrennbar miteinander
verbunden sind. Während der ersten Takte wird der Szene zunächst durch Mahlers
»Naturtöne« die dionysische Perspektive verliehen. Bezeichnenderweise wird die bunte
Strandatmosphäre in der sechsten Einstellung langsam ausgeblendet: die Realität wird
ausgeschaltet, das Altsolo baut einen neuen semantischen Raum auf, der in
der visuellen Ebene nur zwischen Tadzio und Aschenbach besteht. Visconti
schneidet exakt zur Textaussage von Nietzsche. Der Film erreicht an dieser
Stelle seinen Höhepunkt: Aschenbach wendet sich dem Natürlichen zu und
stilisiert es in einer Komposition – Natur und Geist befinden sich in absoluter
Harmonie, er hat sein »inneres Gleichgewicht« gefunden. An dieser Stelle ist die
Semantisierung durch Mahler am dominantesten, denn Aschenbach präsentiert das
Kompositionsprinzip Mahlers: Inspiration durch die Natur und Stilisierung in
der Komposition, so daß sich Natur und Geist in einer Harmonie im Werk
wiederfinden. Während die Semantisierung durch diese deutliche Anlehnung an Mahlers
Person hier ihren Höhepunkt erreicht, bleibt diese zwar auch in den weiteren
Szenen des Films bestehen, die Semantisierung des Films seinerseits beginnt
jedoch bereits in der nächsten Einstellung. Auf die Frage »Was spricht die
tiefe Mitternacht« folgt nicht nur Tadzios »klassische« Gestalt in der Ferne,
sondern sogleich der Schnitt auf die Weite des Sonnenuntergangs. Der erneute
Naturlaut der Oboe (Takt 34 und 35) deutet wiederum das dionysische Element an,
das bezeichnenderweise mit dem Sonnenuntergang über dem Meer sogleich
mit den Nirwana-Motiv, letztlich der Ewigkeit und dem Tod verbunden wird.
Aschenbach vollendet sein Meisterwerk in der Nacht, in der die Schönheit vollkommen
ist.
Visconti dokumentiert die Schönheit der Nacht durch eine weitere Panoramasicht auf das Meer: die Schönheit der Morgendämmerung bildet mit der Musik ein musikalisches Tableau. Sie deutet auf eben jene Natur, der sich Aschenbach nun zugewendet hat und mit der er am Fenster »ein Zwiegespräch führt.« Die Musik paraphrasiert hier die visuelle Ebene und ist zugleich affirmativ interpretierend im Sinne einer inhaltlich dramaturgischen Funktion, da sie den Inhalt des Liedes – die Schönheit der Nacht – sowohl in der Handlungsebene (Aschenbach schreibt sein Meisterwerk) als auch in der visuellen Ebene (Abenddämmerung, Sonnenaufgang) reichlich dokumentiert. Mit dem Nirwana-Motiv wird sie zugleich auch antizipierend. Auch der Kontext von Nietzsches Text bestärkt diese Antizipation: Zarathustra verliert die Liebe des Lebens, sobald ihn seine Weisheit verläßt, Lust und Weh gehören zusammen. Auch Aschenbachs geistige Weisheit ist in dem Moment dahin, als er sich zum Dionysischen bekennt. Zudem deuten die labile Klangstruktur, die beziehungsarmen Intervalle der Vertonung und letztlich der Text der ersten Strophe bereits an, daß die Schönheit der Nacht trügerisch ist – so versagt sich die Schönheit in der Realität der Gegenwart: »Die Welt ist tiefer als der Tag gedacht.« In dieser nimmt die Musik also von Anfang an vorweg, was die folgenden Bilder erst enthüllen wird, nämlich Aschenbachs Scheitern. Auf diese Weise konstruiert der Film im Einklang mit der Musik in einer optischen wie musikalischen Verdichtung alles Folgende nur noch als eine Konsequenz des nicht mehr Umkehrbaren. Der folgende Tag bringt für Aschenbach denn auch die bittere Realität. Die deutliche Strandatmo, die während der vorherigen Einstellungen langsam ausgeblendet wurde als ein semantischer Raum jenseits jeder Realität, ist nun wieder vorhanden, der Tag bedeutet |