- 302 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Harmoniefolge auf dem Text »O Mensch« von F-Dur nach a-Moll. Analog dazu liegt die Wiederholung beim zweiten Mal nach einem Zoom (exakt auf dem »O«) auf Tadzio in der Nahaufnahme. Visconti hebt hier sehr deutlich Mahlers Naturmotiv in den Bläsern hervor, indem er Tadzio, der für die natürliche Schönheit steht, mit einer Orange – eben auch einem Produkt der Natur – spielen läßt. Scheinbar inspiriert von diesem Anblick erhebt Aschenbach sich zügig aus seinem Liegestuhl, der Abschluß der Einleitung läßt ahnen, daß sich nun etwas ereignen wird. Musikalisch ist dies der Anfang des kontinuierlichen Orgelpunktes. Das durchgehende Bordunfundament trägt die Spannung der Einleitung fort und paraphrasiert zugleich Aschenbachs innere Anspannung, als er sein Notenpapier aus seiner Tasche zerrt, so als ob er durch die Inspiration durch den Jungen förmlich getrieben werde und er keine Zeit verlieren dürfe. Auf der Folge der wechselnden Harmonien des Horns (Takt 26) geht Tadzio langsam in sein weißes Handtuch gehüllt durch das Bild, er ist ganz offensichtlich Anlaß für Aschenbachs plötzlichen Arbeitsenthusiasmus. »Was spricht die tiefe Mitternacht?« Tadzios Natur inspiriert Aschenbach zu seiner neuen Komposition.

Die folgende Einstellung, in der Aschenbach Tadzio beobachtet, der in der Ferne langsam ans Meer geht, erhält durch die mit der Verdunklung von D-Dur nach d-Moll (Takt 31 und 32) etwas Mythisches. Der Mahlerische »Genie-Kult« bricht in Aschenbach hervor. Die unbewußte »Inspiration durch die Natur« war bedeutend für Mahlers Kompositionen, besonders für seine ersten vier Sinfonien, in denen die Naturmetaphorik immer wieder sehr dominant ist. Auch Aschenbach läßt sich durch die Natur Tadzios zu seinem Meisterwerk inspirieren. Die Parallelen Aschenbachs in bezug zur Persönlichkeit Mahlers lassen sogar vermuten, daß er gerade jenes Mitternachtslied komponiert. Sogleich folgt der Naturklang der Oboen auf die Weite, in der Tadzio wie eine verschleierte Statue präsentiert wird. Diese Passage erinnert wie oben angedeutet an Wagner, da die Musik als Sprache des Unbewußten und die Sprache des Liedes, die fortwährend Unbewußtes thematisiert, hier eine enge Verbindung eingehen. Insofern ist es auch kein Zufall, daß Mahlers Mitternachtslied auch die Szene umfaßt, in der Aschenbach einen Text schreibt, der Thomas Manns Wagner-Aufsatz Über die Kunst Richard Wagners suggeriert, den er im Jahre 1911 ebenfalls in Venedig – im Liegestuhl am Lido – verfaßt hat:207

207 Renner 1987, S. 157; vgl. auch Hans Rudolf Vaget: »Die Erzählungen.« In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Regensburg 1995, S. 583.
»Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt, daß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden, in denen er, an seinem rohen Tische unter dem Schattentuch, im Angesicht des Idols und die Musik seiner Stimme im Ohr, nach Tadzios Schönheit seine kleine Abhandlung, – jene anderthalb Seiten erlesener Prosa formte, deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannungen binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte.«208
208 Mann 1995b, S. 88.

In dieser Hinsicht vermag Mahlers Musik durch ihre Anklänge an Wagner nicht nur die geistesgeschichtlichen und autobiographischen Voraussetzungen der Venediggeschichte zu erhellen, sondern zugleich durch den Nietzsche-Text eine konzentrierte Wiedergabe ihres Themas zu liefern. Nietzsche offenbart eine dionysische


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