Harmoniefolge auf
dem Text »O Mensch« von F-Dur nach a-Moll. Analog dazu liegt die Wiederholung
beim zweiten Mal nach einem Zoom (exakt auf dem »O«) auf Tadzio in der
Nahaufnahme. Visconti hebt hier sehr deutlich Mahlers Naturmotiv in den Bläsern
hervor, indem er Tadzio, der für die natürliche Schönheit steht, mit einer Orange – eben
auch einem Produkt der Natur – spielen läßt. Scheinbar inspiriert von diesem Anblick
erhebt Aschenbach sich zügig aus seinem Liegestuhl, der Abschluß der Einleitung läßt
ahnen, daß sich nun etwas ereignen wird. Musikalisch ist dies der Anfang des
kontinuierlichen Orgelpunktes. Das durchgehende Bordunfundament trägt die
Spannung der Einleitung fort und paraphrasiert zugleich Aschenbachs innere
Anspannung, als er sein Notenpapier aus seiner Tasche zerrt, so als ob er durch die
Inspiration durch den Jungen förmlich getrieben werde und er keine Zeit verlieren
dürfe. Auf der Folge der wechselnden Harmonien des Horns (Takt 26) geht
Tadzio langsam in sein weißes Handtuch gehüllt durch das Bild, er ist ganz
offensichtlich Anlaß für Aschenbachs plötzlichen Arbeitsenthusiasmus. »Was spricht
die tiefe Mitternacht?« Tadzios Natur inspiriert Aschenbach zu seiner neuen
Komposition.
Die folgende Einstellung, in der Aschenbach Tadzio beobachtet, der in der Ferne
langsam ans Meer geht, erhält durch die mit der Verdunklung von D-Dur nach d-Moll
(Takt 31 und 32) etwas Mythisches. Der Mahlerische »Genie-Kult« bricht in Aschenbach
hervor. Die unbewußte »Inspiration durch die Natur« war bedeutend für Mahlers
Kompositionen, besonders für seine ersten vier Sinfonien, in denen die Naturmetaphorik
immer wieder sehr dominant ist. Auch Aschenbach läßt sich durch die Natur Tadzios
zu seinem Meisterwerk inspirieren. Die Parallelen Aschenbachs in bezug zur
Persönlichkeit Mahlers lassen sogar vermuten, daß er gerade jenes Mitternachtslied
komponiert. Sogleich folgt der Naturklang der Oboen auf die Weite, in der
Tadzio wie eine verschleierte Statue präsentiert wird. Diese Passage erinnert
wie oben angedeutet an Wagner, da die Musik als Sprache des Unbewußten
und die Sprache des Liedes, die fortwährend Unbewußtes thematisiert, hier
eine enge Verbindung eingehen. Insofern ist es auch kein Zufall, daß Mahlers
Mitternachtslied auch die Szene umfaßt, in der Aschenbach einen Text schreibt, der
Thomas Manns Wagner-Aufsatz Über die Kunst Richard Wagners suggeriert,
den er im Jahre 1911 ebenfalls in Venedig – im Liegestuhl am Lido – verfaßt
hat:207
207 Renner 1987, S. 157; vgl. auch Hans Rudolf Vaget: »Die Erzählungen.« In:
Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Regensburg 1995, S.
583.
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»Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt, daß
Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden, in denen
er, an seinem rohen Tische unter dem Schattentuch, im Angesicht des Idols
und die Musik seiner Stimme im Ohr, nach Tadzios Schönheit seine kleine
Abhandlung, – jene anderthalb Seiten erlesener Prosa formte, deren Lauterkeit,
Adel und schwingende Gefühlsspannungen binnen kurzem die Bewunderung
vieler erregen sollte.«208
In dieser Hinsicht vermag Mahlers Musik durch ihre Anklänge an Wagner
nicht nur die geistesgeschichtlichen und autobiographischen Voraussetzungen
der Venediggeschichte zu erhellen, sondern zugleich durch den Nietzsche-Text
eine konzentrierte Wiedergabe ihres Themas zu liefern. Nietzsche offenbart
eine dionysische
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