- 3 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Die Verwendung autonomer Musik im Film ist ein Phänomen, das seinen Ursprung in den Kindertagen des Films – dem Stummfilm – hat und heute mit Vorliebe verwendet wird. Zwar muß man die Funktionalität heutiger Zitate von der Stummfilmpraxis unterscheiden1
1 Vgl. Kap. 6, Tendenzen der autonomen Musik im Laufe der Filmgeschichte.
, doch verfügt die Filmgeschichte aufgrund dieser verhältnismäßig langen Tradition über eine große Vielfalt an Filmen, in denen autonome Musik zitiert wird. Eine gezielte Auswahl an Filmen war aufgrund dieser Fülle nicht nur sinnvoll, sondern für unsere Fragestellung geradezu notwendig. Hans-Christian Schmidt stellt in seiner These die Frage nach der dramaturgischen Verwertung eines musikalischen Kontextes: autonome Musik agiert seinen Ausführungen zufolge als bewußt eingesetztes dramaturgisches Mittel. Die Musik erhält eine aktive Funktion, sie »spricht« für sich und die Handlung. Dies setzt voraus, daß die zitierte Musik eine Substanz haben muß – sei es innermusikalisch oder entstehungsgeschichtlich – die mit dem Inhalt und der Dramaturgie des Films auf erdenkliche Weise kompatibel ist. Die erste Frage lautet daher: warum wird ausgerechnet dieses Werk zitiert und nicht irgendein anderes? Die vorangestellte These forderte somit eine Vorauswahl an Filmen, in denen ein bewußter Umgang mit der Musik offensichtlich ist, deren Zitate ganz gezielt eingesetzt werden. Demgegenüber steht eine Fülle an Filmen, in denen autonome Musik – ob »klassischer« Art oder aus dem Bereich der Rock- und Popmusik – lediglich als plakativer Stimmungsteppich eingesetzt wird. Beispiele gibt es genug: In Sydney Pollacks Jenseits von Afrika erklingt Mozarts A-Dur-Klarinettenkonzert zu den idyllischen Bildern der endlosen afrikanischen Steppe, in der die Afrika-Romanze der dänischen Aussteigerin Tania Blixen gegen Ende der Kolonialzeit ihren romantischen Anfang und ihr trauriges Ende nimmt. Der Film beginnt mit einer traumartigen Reminiszens der Erzählerin, die uns zu den Bildern einer blutroten Abenddämmerung über der kargen Steppe von »ihm« erzählt – von Denys Finch Hatton, dem blonden smarten Abenteurer und Schwarm ihres Herzens. Ein filmmusikalisches Klischee, wie es Keller2
2 Matthias Keller: Stars and Sounds. Filmmusik – Die dritte Kinodimension. Kassel 1996, S. 76.
ganz treffend formuliert. Mozart, so Keller, steht hier für ein klangliches Idiom einer Gesellschaft, deren sozialen und emotionalen Zwängen Karen zwar zu entfliehen versucht, deren Geist und Erziehung sie jedoch immer wieder einholt. Dem nostalgischem Reiz der Musik wird gerade dadurch gehuldigt, daß Karen den langsamen elegischen Satz zu ihrem Lieblingsstück erklärt. Doch ebenso hätte es jedes andere Stück aus der klassisch-romantischen Literatur sein können, das Karen zu ihren melancholischen Monologen beflügelt – und dies zu den üppigen Bildern einer afrikanischen Steppe, die manches Mal von einer Zigarettenwerbung nicht mehr zu unterscheiden sind. Hinzu kommt die Tatsache, daß dieses Werk gerne da zitiert wird, wo es gilt, eine »romantisch triefende« Stimmung zu erzeugen. Andere Beispiele: In Hal Ashbys Harold und Maude (USA 1971) stolziert Harolds Mutter majestätisch in den Pool, während ihr Sohn gerade wieder einmal seinem makabren Todeskult nachgeht und eine Wasserleiche mimt – begleitet vom üppigen einleitenden Melos des Klavierkonzertes b-Moll von Tschaikowsky. Grotesk, aber sehr wirkungsvoll. Volker Schlöndorff läßt seinen Oskar Matzerath im Dreivierteltakt gegen den zackigen Badenweiler-Marsch der Nationalsozialisten antrommeln

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