- 298 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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ihre Relation zum sinfonischen Kontext der gesamten Sinfonie angewiesen. Bereits Mahlers Auswahl rückt die Dichtung in einen anderen Kontext, denn er ließ die eröffnenden Prosazeilen aus, in denen Nietzsche den Aufruf an die »höheren Menschen« als »Zarathustras Rundgesang« erhebt. Krummacher vermutet daher, daß Mahlers Auswahl des Textes von Nietzsche nicht nur in der generellen Faszination liegt, die in seiner Zeit von dem Werk ausging, sondern auch in der elitären Relation des isolierten Genies gegenüber der Allgemeinheit.197
197 Friedhelm Krummacher: Gustav Mahlers III. Symphonie. Welt im Widerbild. Kassel 1991, S. 121–122.
Dabei stellt er besonders die von Nietzsche suggerierte resignative Anthropozentrik in den Mittelpunkt. Die romantische Ambivalenz von Tag und Nacht, die Wagner im zweiten Tristan-Akt auskomponiert, wird auf den Bereich des Liedes übertragen. So zeichnet sich der vierte Satz als eine liedhafte Äußerung des Unbewußten aus.198
198 Stenger 1998, S. 97–98.
Mahler spürt den Symbolen, die Nietzsche mit der sprachmelodischen Intimität seiner Zeilen eins werden ließ, nach und integriert sie nicht minder nahtlos in den musikalischen Verlauf. Dabei hat er Nietzsches Schlüsselwörter wie »Mensch«, »tief« oder »Lust« in seiner Version verdoppelt und durch diese Umformung zwei strophenartige Teile geschaffen. Dadurch ergibt sich eine Dehnung. Der bei Nietzsche so konstitutive Wechsel von Lang- und Kurzzeilen wird bei Mahler in ein höheres Maß an längeren Zeilen gebogen. Somit entsteht aus Nietzsches freier Prosa bei Mahler ein liedhaftes strophisches Gedicht, das zugleich einem persönlichen Bekenntnis nahekommt:

Nietzsche

Mahler

O Mensch! Gib acht!

O Mensch! O Mensch!

Was spricht die tiefe Mitternacht?

Gib Acht! Gib Acht!

Ich schlief, ich schlief -,

Was spricht die tiefe Mitternacht?

Ich schlief! - Ich schlief!

Aus tiefem Traum bin ich erwacht:-

Aus tiefem Traum

Die Welt ist tief,

bin ich erwacht!

Und tiefer als der Tag gedacht.

Die Welt - ist tief!

Und tiefer, - als der Tag gedacht!

O Mensch! Tief ist ihr Weh,

- Lust - tiefer noch als Herzeleid:

O Mensch! O Mensch!

Weh spricht: Vergeh!

Tief! - Tief! Tief ist ihr Weh!

Doch alle Lust will Ewigkeit -,

Tief ist ihr Weh!

- will tiefe, tiefe Ewigkeit!199

199Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. Vierter Teil. Leipzig 1899, S. 471.

Lust - Lust tiefer noch als Herzeleid

Weh spricht: Vergeh!

Weh spricht: Vergeh!

Doch alle Lust will Ewigkeit,

will tiefe, tiefe Ewigkeit.200

200 Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3 (d-Moll) in sechs Sätzen für großes Orchester, Altsolo, Knabenchor und Frauenchor, IV. Satz, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft (= Gustav Mahler. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. III). Wien 1974, S. 181–191.


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