- 296 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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– so wie auch das Adagietto keinen Abschluß aufweist. Indem Visconti Mahlers Adagietto auch im laufenden Abspann weiterfließen läßt, schafft er eine syntaktische Einheit des Films, denn die in der ersten Sequenz antizipierten Erwartungen, beispielsweise das bedrohlich wirkende Schiff oder der musikalische Kontrapunkt zu den Bildern des Sonnenaufgangs, werden im Laufe der Dramaturgie verarbeitet und mit dem Tod Aschenbachs letztlich eingelöst. Dramaturgisch gesehen vereint die Musik noch einmal die wichtigsten Motive des gesamten Films. Zum einen das Motiv der Falschheit: Aschenbachs »Verjüngung« war nur eine Illusion. Er fällt der entfliehenden Zeit zum Opfer und scheitert letztlich an seiner Sehnsucht. Liebes- und Sehnsuchtsmotiv vereinen sich hier. Alle diese Motive werden letztlich im Nirwana- und Todesmotiv aufgelöst, die Musik erfährt hierdurch ihre stärkste Semantisierung im dramaturgischen Verlauf. Damit läßt sich diese Szene als endgültiger Umschlagplatz in der Bildersprache des Films ansehen, die sich gegenüber der Musik absolut analog verhält. Darüber hinaus fungiert das Adagietto hier als psychologische Affirmation der Emotionen des Zuschauers auf den Tod des Protagonisten. Das Schicksal Aschenbachs wird auf diesem Wege emotional überhöht und dem Zuschauer mitgegeben.

11.1.4.  Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3 d-Moll, IV. Satz Mitternachtslied

11.1.4.1 Der musikalische Kontext des Zitats

Die Sinfonie in d-Moll ist mit Altsolo, Frauen- und Knabenchor besetzt nach Worten von Friedrich Nietzsche und aus »Des Knaben Wunderhorn«. Sie entstand in den Jahren 1895/96. Zu dieser Zeit war Mahler zwar ein erfolgreicher Dirigent am Hamburger Stadttheater, seine Kompositionen aber wurden noch nicht anerkannt, und er hatte Mühe, sie aufzuführen. Dennoch setzte er seine Tätigkeit als Komponist fort, da er vor allem von dem Gedanken besessen war, erneut ein sinfonisches Werk zu schaffen, das seinen Gedanken Ausdruck verlieh. Diese Motivation läßt sich auch in bezug auf die dritte Sinfonie deutlich verfolgen. Mahler vollendete die Sinfonie in Steinbach am Attersee. In einem Brief an Friedrich Löhr schreibt Mahler im Sommer 1895, daß die Sinfonie seinem persönlichen Empfindungsleben als dem, was die Dinge ihm erzählen, entspreche. Seiner »liebsten Anna« schreibt er: »Meine Symphonie wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört hat! Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes, was man vielleicht im Traume ahnt!«192

192 G. Mahler, Brief an Anna Bahr-Mildenburg im Sommer 1896, zit. n. Blaukopf 1982, S. 165–166, vgl. auch Stenger 1998, S. 78.
Ideelle und geistige Geschlossenheit prägen den symphonischen Charakter der Dritten. Mahler wollte hier naturphilosophische und mythische Gehalte einander durchdringen lassen. Das Ausmaß dieser Durchdringung verdeutlichen die programmatischen Satzbezeichnungen.193
193 Stenger 1998, S. 78.
Ursprünglich hat Mahler dem vierten Satz den Titel »was mir die Liebe erzählt« gegeben: »Was mir die Liebe erzählt, ist ein Zusammenfassen meiner Empfindungen allen Wesen gegenüber, wobei es nicht ohne tief schmerzliche Seitenwege abgeht, welche sich aber

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