- 295 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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erfaßt Tadzio stets vor dem Hintergrund der glitzernden Sonnenuntergangsfarben des Meers. Die Harfenarpeggien imitieren auch während der folgenden Einstellungen die leisen Wellenbewegungen des Meeres. Als solche ist sie nach Spottiswoode als Stilisierung eines Geräusches auch imitatorisch. Mit der Wiederholung des ersten Motivs in den Celli erfolgt die Einstellung, in der der Zoom in die Halbnahaufnahme Aschenbachs nahen Tod offenbart. Mit dem gis (Viola) in Takt 13 erfolgt die Rückung des Themas. Die Kamera erfaßt Tadzio als winzige Figur vor dem prächtigen Sonnenuntergang. Der geradezu provokativ im Vordergrund plazierte Fotoapparat deutet jedoch bereits an, daß dieser Höhepunkt der für Aschenbach »vollkommenen Schönheit« Tadzios einer Natur entspringt, die für ihn wie auf einem Foto abgebildet eine Illusion, unantastbar bleibt; er kann sie nicht mehr ausleben. Als sollte dies bestätigt werden, folgt der Schnitt: Aschenbach beobachtet den Jungen trotz seines Schwächeanfalls noch immer mit einem wenn auch resignierten Lächeln. Als die Dominante sich nach langem Zögern auflöst, dreht Tadzio sich im Sonnenuntergang zu Aschenbach um. Die Melodie steigt auf von fis’ nach d”, exakt in diesem Moment hebt Tadzio seinen Arm, als weise er auf einen fernen Horizont: das Nirwana-Motiv tritt deutlich hervor. Bei der nun folgenden Steigerung der Melodie zum ersten Höhepunkt versucht auch Aschenbach sich aufzurichten, als wolle er Tadzio erreichen. Auf dem Höhepunkt des ersten Themas, dem Quartsextakkord (Takt 30), streckt er vergeblich seine Hand nach Tadzio aus, als wolle er das Bild in seiner Vollkommenheit festhalten, denn die folgende Einstellung zeigt Tadzio, der wie eine griechische Götterstatue in der Weite des Sonnenuntergangs steht, für Aschenbach die Vollendung von »vollkommener Schönheit«. Tadzio wird hier endgültig zum »Todesengel«, zum Hermes, der als Seelenführer Aschenbach auf das Jenseits verweist. Die Erfüllung eines Lebensglückes, das nur durch die Natürlichkeit geprägt ist, ist für ihn »im Diesseits« nicht mehr möglich. Sobald er Tadzios Bild der »vollkommenen Schönheit« vor Augen hat, stirbt er. Das erste Thema endet kurz danach. Die Diskrepanz zwischen Schönheit und Tod erlangt in dieser letzten Szene, in der das Adagietto analog dazu semantisch geprägt wird, ihren Höhepunkt. Dem polnischen Knaben, den Visconti in romantischen Farben als Silhouette mystisch gegen den Sonnenuntergang stellt, sitzt Aschenbach gegenüber, der bereits alle Anzeichen der Todesnähe zeigt. Über allem liegt der ruhig melancholische Klang des Adagiettos, das in dieser Sequenz dadurch seine stärkste Semantisierung durch den Film erhält, nämlich ein letztes Mal durch das Nirwana- und das Todesmotiv. Absolute Schönheit ist unweigerlich verbunden mit Dekadenz und Verfall. Damit erweist sich das Adagietto auch filmsyntaktisch geschlossen. Während es in der ersten Szene einen Sonnenaufgang begleitete, so ertönt es jetzt zu einem Sonnenuntergang. In beiden Szenen wurde es dem Nirwana-Motiv zur Seite gestellt. Auch hier verschwimmt die Horizontlinie als ein »Grenzenlos-Ungeheures«, dem die Musik Rechnung trägt.

Das durch die Musik schon fast irreal wirkende »visuelle Spektakel«, in dem Visconti seinen Aschenbach zu »schöngeistiger« Musik sterben läßt, erfährt erst eine Art Realität mit dem Einsatz des zweiten Moll-Themas. Mit dem schweren Streicherklang auf dem c’ des zweiten Moll-Themas richtet der Strandjunge Aschenbachs Leiche im Liegestuhl auf. Die unentschlossene in sich kreisende Melodie paraphrasiert sogleich das Entsetzen im Gesicht der Touristin, die sofort durch einen Kameraschwenk erfaßt wird. Doch der »Weltschmerz« Mahlers hält nicht lange an. Mit der Modulation nach Ges-Dur entspannt sich die Melodie, Aschenbach wird vom Strand weggetragen. Der Abspann erfolgt noch in der laufenden Einstellung, die erst mit dem Beginn von Takt 52 ausgeblendet wird. Mit dem Ende des Abspanns verhallt das Adagietto, es wird ein letztes Mal nicht zu Ende geführt. Dies deutet auf jenen stets vorhandenen musikalischen wie auch dramaturgischen Schwebezustand hin, in dem Aschenbach bis zum Schluß keinen Halt findet


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