- 293 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Reise nach Venedig bereits beruflich gescheitert ist. Sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit weisen auf sein Ende hin.

In der Rückblende ergibt sich gleich eine doppelte Semantisierung der Filmhandlung durch den Mahlerischen Kontext. Der dröhnende Dissonantakkord verweist auf einen Kompositionsstil Aschenbachs, in dem er anscheinend bereits die Auflösung jeglicher Tonalität betreibt, der an Zwölftonmusik erinnert: der Schlußakkord des Finales endet nicht auf der klassisch konsonanten Kadenz, sondern auf einer fast schon erschreckenden Dissonanz. Mit diesem Zug kennzeichnet Visconti seinen Aschenbach als einen Komponisten, der ähnlich wie Manns Leverkühn die Unzulänglichkeit der musikalischen Mittel des ausgehenden 19. Jahrhunderts erkannt hat und daraus einen neuen Stil entwickelt. Sowohl Aschenbach als auch Leverkühn können in dieser Hinsicht als »Wegbereiter der Moderne« gelten. Dadurch ergibt sich der Bezug zu Mahler. Die Figur des Adrian Leverkühn ist nach eigenen Worten Manns an die Persönlichkeit Schönbergs angelehnt. Dieser verweist wiederum auf den Komponisten Mahler, für den er eine Hochachtung empfand, da Mahler letztlich den Stil Schönbergs maßgebend beeinflußt hat. Mit pathetischen Worten verteidigt er in seiner Prager Rede im Jahre 1913 die Vielfältigkeit von Mahlers musikalischen Stilmitteln und dem Ausdruck seiner Sinfonien gegenüber den Skeptikern einer neuen Musik: »[. . . ] sich auszudrücken hat auch Mahler angestrebt. Und das ihm dies gelungen ist, kann keiner bezweifeln, der nur einigermaßen imstande ist zu erfassen, wie einzigdastehend diese Musik geblieben ist [. . . ].«190

190 Arnold Schönberg, »Prager Rede.« In: Wunderlich 1966, S. 23.
Gleichzeitig entschuldigt er die Ignoranz des Publikums. »Es ist fast verzeihlich, daß das Publikum da versagt, denn es gibt immer so viele, die das Bedürfnis nach dem, was unserer Zeit entspricht, in einer viel zugänglicheren Form befriedigen, als der, der schon der Zukunft angehört.«191
191 Schönberg 1966, S. 17.
Das Publikum »versagt« auch in Viscontis Rückblende. Aschenbach wird ausgepfiffen und »schuldig gesprochen« wie Alfried es ausdrückt. Die Rückblende erinnert an Mahlers Ausspruch zum Scherzo seiner fünften Sinfonie: »Die Dirigenten werden ihn fünfzig Jahre zu schnell nehmen und einen Unsinn daraus machen. [. . . ] O, könnt ich doch meine Sinfonien fünfzig Jahre nach meinem Tode uraufführen!« Mahler ist in seinen Kompositionen seiner Zeit voraus ebenso wie Viscontis Aschenbach. Ähnlich wie in der Beerdigungsszene von Aschenbachs Tochter ist die Semantisierung durch den Mahlerischen Kontext überdeutlich, da sich auch in dieser Hinsicht zumindest in der Vorlage Der Tod in Venedig keinerlei Hinweise finden. Sowohl Mahler als auch Viscontis Aschenbach brüskieren das Publikum, letztlich die Gesellschaft, mit ihrer Musik. Doch bei der Frage nach dem Grund der allgemeinen Ablehnung endet die Semantisierung durch Mahler, und Manns Vorlage tritt wieder in Erscheinung. Zwar ist sowohl Mahler als auch Aschenbachs Stil von der Fusion sämtlicher musikalischer Floskeln geprägt, die der Auflösung der Tonalität entgegenstreben, doch sind Mahlers Beweggründe anderer Natur. Seine Musik ist zum einen das Ergebnis des nur noch unzureichenden Arsenals an musikalischen Floskeln, zugleich aber auch ein Kommentar zur Zersplitterung der Gesellschaft. Nur noch in seinen Werken stellt er eine erzwungene Einheit her, indem er unversöhnliche Gegensätze gegenüberstellt. Als solche ein Kommentar gegenüber der Gesellschaft, die diesen Schritt jedoch noch nicht nachvollziehen

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