- 292 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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der mittlerweile die ersten Anzeichen von Schwäche zeigt, steht vor der gleichen Unschlüssigkeit.

Die musikalische Phrase wiederholt sich in den Takten 68 und 69. Bezeichnenderweise kehrt eben diese Motiv im Finale der Sinfonie nochmals wieder, mit dem Unterschied, daß Mahler es hier ins Banale parodiert. Ebenso parodiert Visconti Aschenbachs Leidenschaft für den Jungen: er scheint nicht mehr Herr seiner selbst. Als er die Familie nicht mehr sieht, reagiert er hilflos und panisch. Sein selbstkritisches Bewußtsein ist dahin, er ist nur noch eine lächerlich groteske Marionette seiner Leidenschaft. Die ewig gleitende, endlose Melodie charakterisiert in dieser Sequenz zusätzlich das Sehnsuchtsmotiv: auch Aschenbach erreicht das Ziel seiner Begierde nicht mehr. Mit dem Trugschluß in Takt 72 endet die Steigerung, das erste Thema setzt erneut an, Aschenbach hat die Familie wiedergefunden. Mit der Dominanten C-Dur (Takt 82), die fast drei vollständige Takte umfaßt, entsteht im musikalischen Verlauf eine Spannung, die ihre Entsprechung im Bild in der plötzlichen Atemnot Aschenbachs findet. Die nächste Spannung entsteht auf der unaufgelösten Kadenz (Takt 87). Auf dem Pizzicato der Bässe läßt Visconti seinen Aschenbach in einem Schwächeanfall zu Boden sinken, die Bewegung wird gleich darauf genauso zögerlich in der Auflösung der Kadenz paraphrasierend nachvollzogen. Die Entfernung der Melodie in die Molldominante a-Moll wird durch seine resignierende und zugleich hilfesuchende Geste kommentiert. Der Friseur, der Aschenbach einfach ignoriert und wieder in sein Geschäft zurückkehrt, ist wiederum ein Hinweis auf die Ignoranz der Gesellschaft, die auch Mahler beklagt hat. Auf dem Höhepunkt des Satzes erfaßt die Kamera in einer bildausfüllenden Großaufnahme einen Aschenbach, der in seinem eleganten weißen Anzug im Schmutz der Erde sitzt. In Erkenntnis darüber, in welch groteske Situation ihn seine absurde Sehnsucht geführt hat, bricht er in ein hysterisches Gelächter aus. Die reine Tonika F-Dur wird in ihrem unerbittlichen Fortissimo zu einem dramaturgischen Kontrapunkt, der sich auch in dem langsamen Abgesang über die Dominante fortsetzt. Visconti verstärkt die fiktive Nähe zum Zuschauer durch die überdimensionale bildausfüllende Großaufnahme Aschenbachs. Während dieser bei seiner Verfolgung Tadzios eher in amerikanischer Einstellung oder Halbtotale gezeigt wird, die eher eine Distanz des Zuschauers verschaffen – Aschenbachs grotesker Wahn soll vom Zuschauer erkannt werden – ist die Identifikation mit der Großaufnahme Aschenbachs wieder möglich, denn er erkennt die Absurdität seiner Situation, die der Zuschauer schon vorher empfindet. So ruft der melancholische Gestus in diesem Moment unter Umständen auch Mitleid des Zuschauers für den »gestrandeten« Aschenbach hervor. Als solche fungiert die Musik neben ihrer inhaltlichen Funktion auch psychologisch affirmativ. Die letzten Takte (95 bis 99) sind wiederum eine Anleihe aus dem Rückert-Lied, was die Semantisierung ein weiteres Mal bestätigt: Aschenbach ist der Welt endgültig abhanden gekommen. Dem Mahlerischen Abgesang wird wiederum der Verfall, nun auch in Aschenbachs Person direkt gegenübergestellt, er ist moralisch wie gesellschaftlich gescheitert. Die Einheit von Schönheit und Dekadenz erreicht hier einen weiteren Höhepunkt. Trotz des Abgesangs wird der Satz auf dem Dominantseptakkord C7 brutal unterbrochen. Das Ende des takes durch den dissonanten Schlußakkord eines der Werke Aschenbachs ist auffällig und akzentuiert. Der Abbruch der Musik ist ein Kommentar, denn die folgende Rückblende entlarvt Aschenbach, der vor seiner


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